Vermessene Gefühle

Die digitale Bewertungskultur fördert den Wettkampf aller gegen alle. Von Wolfgang M. Schmitt

  • Wolfgang M. Schmitt
  • Lesedauer: 5 Min.

Profit aus Emotionen zu schlagen, ist kein neues Phänomen. Werbungen preisen weniger ein Produkt als das damit verbundene Gefühl an, Konzerne »lieben« Lebensmittel und Journalisten drücken in den sogenannten sozialen Medien auf die Tränendrüse - mit Phrasen wie »bei dieser Geschichte musste ich weinen« werden dem Nutzer Artikel offeriert. Die Filmindustrie beherrschte das Geschäft mit den Gefühlen immer schon exzellent, doch nun geht Disney einen entscheidenden Schritt weiter und vermisst das, was als unmittelbarer menschlicher Ausdruck gilt: Mit Hilfe von Infrarotkameras werden die Gesichter von Testzuschauern in Kinosälen gescannt, um ihre Emotionen detailliert auszuwerten. Man erfasst und entschlüsselt bei dem Verfahren die Variationen im Gesicht des Zuschauers während des Films. Sie werden als Ausdruck der Freude, Wut oder Trauer automatisch erkannt und die mimischen Veränderungen in Zahlencodes umgewandelt, um sie in Tabellen und Diagrammen festzuhalten. »Factorized Variational Autoencoding«, automatische Entschlüsselung von mimischen Variationen, ist eine Evaluierungsmethode, mit der Blockbuster sicherer zum Erfolg geführt werden sollen: Wenn das gescannte Publikum an den gewünschten Stellen nicht lacht oder weint, wird der Film noch einmal überarbeitet.

Hinter den vermeintlich herzerwärmenden Filmen steht die eiskalte Logik der Algorithmen, mit denen man bislang bereits 16 Millionen individuell verschiedene Gesichtsausdrücke gesammelt hat. Dies ist nur ein Beispiel für die gegenwärtige Vermessung von allem und jedem. Sollte es sich durchsetzen, wäre dieses Verfahren auch auf andere Felder übertragbar: Um die Einstellungen von Angestellten zu ihrem Arbeitergeber zu evaluieren - die Videoüberwachung von Mitarbeitern, die ohnehin bereits in vielen Unternehmen stattfindet, könnte so noch effizienter werden. Auch ließe sich die Motivation von Arbeitslosen, die im Jobcenter vorstellig werden müssen, eruieren. Gibt der zu Vermittelnde nur Lippenbekenntnisse von sich oder ist er tatsächlich an der ihm angebotenen Stelle interessiert? Das freundlichste Gesicht bekommt den Job.

Die Vermessung des Menschen ist in vollem Gange und verändert den Blick auf das Soziale radikal. Das Verfahren von Disney ist - es wurde erst jetzt bekannt - in Steffen Maus »Das metrische Wir« noch nicht erwähnt, doch man kann es nach der Lektüre des lesenswerten Buchs spielend in einen größeren Kontext einordnen. Der Autor beschäftigt sich darin mit der - wie es im Untertitel heißt - »Quantifizierung des Sozialen«. Es geht um die omnipräsenten Evaluationen, Ratings und Rankings, die von Produkten, Publikationen und Menschen erstellt werden. In der Gegenwart, wir wollen sie der Einfachheit halber als neoliberal charakterisieren, geht es mehr denn je um Leistungssteigerung: »Permanente Vermessung und Bewertung führen dazu, dass sich sowohl die Fremd- als auch die Selbststeuerungsleistungen intensivieren«, schreibt Mau über das virulente »Reputationsmanagement«. Gerade in Zeiten großer sozialer Statusunsicherheit gehe es darum, »sich seines Standings zu versichern - am besten mit objektiven Daten«.

Mau ist Makrosoziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin und kennt folglich den wissenschaftlichen Betrieb sehr gut. Anhand vieler Beispiele erläutert er sachkundig, wie die neue Bewertungskultur auch den akademischen Wettbewerb bestimmt. Dabei ist er beileibe kein Don Quijote, der gegen Zahlen und Statistiken kämpft, vielmehr problematisiert er die weitreichenden Folgen. Er spricht von einer »Universalisierung des Wettbewerbs«, Unvergleichbares versuche man miteinander zu vergleichen, um Hierarchien zu etablieren, die fälschlicherweise als objektiv angesehen werden, nur weil Zahlen den Anschein von Neutralität haben. Dass dahinter aber - meist von Menschen gemachte - Kriterien stehen, die kritikwürdig sind, werde zu oft übersehen. Die technokratische Weltanschauung ist zudem keinesfalls, wie gern angenommen wird, eine unpolitische. Im »Gewand der objektiven Berichterstattung« werde Marktmacht gesichert und eine neue Form der Ungleichheit etabliert - jenseits der althergebrachten Klassenstrukturen entwickle sich der Konflikt hin zu einem »Wettbewerb der Individuen«. So entstehen »numerische Ungleichheiten«, die jedoch Klassenbildungen verunmöglichen. Mag der Buchtitel auf den ersten Blick auf Kollektivierung oder Entstehung von Gemeinschaften hindeuten, ist das Gegenteil der Fall: »Das metrische Wir ist eine Masse aus Individuen, die im Wettstreit miteinander stehen, kein solidarisches oder kooperatives Wir.« Jeder kämpft für sich allein und gegen alle. Klingt das Disney-Verfahren, obwohl erfolgreich erprobt, noch nach Zukunftsmusik, ist die Erfassung des Menschen auf anderen Gebieten bereits weit vorangeschritten: Wir sind in einen »Wettbewerbsindividualismus« eingetreten - durch Gesundheits- und Fitnessarmbänder, Gefällt-mir-Buttons, Klickzahlen und Zitationszählungen werden permanent Daten gesammelt und ausgewertet, aus denen sich Bedeutung und Anerkennung ablesen lassen, um den Einzelnen einzuordnen und gegebenenfalls zu disqualifizieren. Auch wenn es letztlich nur Ansammlungen von Zahlen sind, sobald »Menschen Situationen als real definieren, sind sie in ihren Konsequenzen real. Die Durchschlagskraft der Ratings und Rankings ergibt sich auch daraus, dass wir an sie glauben«, konstatiert der Autor.

Mau vermeidet einen anklagenden Ton; was er an Fakten präsentiert, spricht für sich. Vor allem kurios wirkende Beispiele lassen die unheilvollen Dimensionen des Bewertungswahns zum Vorschein treten: Die App »MedXSafe« ermöglicht es Nutzern auf dem Datingmarkt, sich gegenseitig über etwaige sexuell übertragbare Krankheiten zu informieren. Nach der Untersuchung geben Ärzte auf Wunsch die Daten auf einer Plattform ein, sodass sie an die anderen Nutzer weitergeleitet werden und so Informationen über die Gesundheit eines potenziellen Sexpartners einsehbar sind. Einwenden könnte man, dass dieser Dienst doch freiwillig ist, Mau macht aber deutlich, dass der Druck zur Datentransparenz sich für alle erhöht: »Zurückhaltung bei der Sichtbarmachung persönlicher Daten führt dann zu Skepsis und zu der Unterstellung, diejenigen, die die Offenlegung meiden, hätte etwas zu verbergen.«

Die Taxierung von allem und jedem kennt keine Grenzen, auch keine geschmacklichen. Ein Beispiel, dass Mau dem Leser erspart, sei hier erwähnt: Im Internet werden auf diversen Portalen nicht nur Hotels, Restaurants und Ärzte bewertet, sondern auch Prostituierte, vorwiegend weibliche, aber auch männliche. »Kunden« können Punkte auf Profilen für Körper, Leistungen und Service vergeben und in weder zitierfähigen noch -würdigen Kommentaren ins Detail gehen. Die nackte, erbärmliche Wahrheit über den Bewertungskapitalismus zeigt sich in dieser Rankingkloake: Am Ende steht der gänzlich zur Ware degradierte Mensch. Ob künftig Kameras am Gesichtsausdruck ablesen können, ob der Orgasmus echt oder vorgetäuscht war, bleibt abzuwarten.

Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Suhrkamp, 308 S., geb., 18 €.

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