nd-aktuell.de / 03.09.2017 / Kommentare

An der klassenpolitisch zentralen Frage vorbei

Leistungsgerechtigkeit? Es wäre falsch, diese bloß als ein kapitalistisches oder neoliberales Prinzip zu betrachten. Eine Replik

Ralf Krämer

Dieser Tage schrieb Tom Strohschneider in »neues deutschland« über den Begriff der »Gerechtigkeit«[1] in der politischen Auseinandersetzung (nd vom 2. September). Insbesondere problematisiert er den Begriff der »Leistungsgerechtigkeit«, diese sei unter kapitalistischen Bedingungen eine Chimäre. Man kann ihn so verstehen, dass Linke sich auf diesen Begriff nicht positiv beziehen sollten. Stattdessen verweist er auf Marx’ »kategorischen Imperativ«, jeder solle nach seinen Fähigkeiten arbeiten und nach seinen Bedürfnissen leben können.

Linke sollten sich aber nicht nur darüber Gedanken machen, was abstrakt oder unter idealen Umständen gerecht wäre. Sondern sie müssen ausgehen von dem gegebenen Stand der Produktivkraftentwicklung und den gesellschaftlichen Verhältnissen, die mit den verfügbaren Mitteln absehbar erreichbar sind. Marx schrieb dazu eigentlich das Gegenteil dessen, wofür Tom Strohschneider ihn in Anspruch nimmt, oder auch was manche AnhängerInnen eines bedingungslosen Grundeinkommens behaupten.

Er wendet sich nämlich gegen die Aussage des Gothaer Programms, »da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern.« Auch in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft gelte: »Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, daß an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. (...) Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit der Arbeiter als natürliche Privilegien an. (...) In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft (...) erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 20f.[2])

Keine Frage idealistischer Ziele

Auch Strohschneiders Hinweis auf den globalen Rahmen der Gerechtigkeitsfrage ist nur relativ richtig, und was will er uns damit in der Konsequenz sagen? Linke Politik muss sicherlich darauf gerichtet sein, auch globale Verhältnisse gerechter zu gestalten. Aber auch hier sind die Bedingungen und Möglichkeiten konkret zu analysieren.

Erforderlich sind solidarische Entwicklungspolitik, ökologischer Umbau, Friedenspolitik. Ökonomisches Schrumpfen oder gar der Verzicht auf eine Politik für mehr innergesellschaftliche Gerechtigkeit in den reichen Ländern würde den Menschen in den ärmeren Ländern überhaupt nicht helfen, im Gegenteil. Und vor allem ist es gegenwärtig und absehbar weiterhin der nationalstaatliche Rahmen, in dem sich politische Bewegung und Entwicklung primär organisiert und in dem linke Politik Mehrheiten und Macht gewinnen muss für eine Politik der Gerechtigkeit auch auf dem internationalen Feld. Das ist keine Frage idealistischer Ziele, sondern der Realität.

Deshalb muss eine Linke, die erfolgreich sein will, auch die Gerechtigkeitsvorstellungen berücksichtigen, die in der Bevölkerung verbreitet sind, die sie ansprechen und gewinnen muss. Ausgangspunkt ist sicherlich der Grundsatz der Gleichheit aller Menschen. Dieser konkretisiert sich zunächst in gleichen Rechten, Menschenrechten, politischen Rechten, sozialen Rechten.

Gerechte Ungleichheiten

Aber es muss auch die Frage beantwortet werden, welche Ungleichheiten unter den gegebenen Bedingungen als gerecht zu betrachten sind, insbesondere bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie in Bezug auf Sozialleistungen. Linke streben einen starken Abbau der bestehenden sozialen Ungleichheit an, aber keine pauschale Gleichmacherei, wenn die realen Bedingungen unterschiedlich sind.

Zunächst gibt es das soziale Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit: wer einen ungedeckten Bedarf hat um leben und an der Gesellschaft teilhaben zu können, soll Leistungen bekommen, und wer einen begründet höheren Bedarf hat, soll mehr bekommen als jemand, der/die einen geringeren Bedarf hat. Es gibt zunächst unterschiedlich hohe Bruttobedarfe, zum Beispiel brauchen Behinderte zusätzliche Hilfen, oder die Wohnkosten sind unterschiedlich hoch. Und dann hängt der Bedarf davon ab, inwieweit die Person bereits über Einkommen oder Vermögen verfügt, die sie zumutbar einsetzen kann um ihren Bedarf zu decken. Durch Sozialleistungen zu decken ist dann nur der verbleibende Nettobedarf.

Welcher Bedarf überhaupt als angemessen zu betrachten ist, was zumutbar eingesetzt werden muss und was an weiteren Anstrengungen verlangt werden kann, all diese Fragen sind nicht »objektiv« zu beantworten, sondern beinhalten Bewertungen, die gesellschaftlich zu diskutieren und demokratisch zu entscheiden sind. Linke werden da »großzügiger« sein als andere, aber diese Prinzipien an sich sind vernünftig und gerecht.

Wenn andernfalls Menschen aus ihren mühsam erarbeiteten Einkommen Steuern zahlen sollten zur Finanzierung von Leistungen, die einigen ein besseres Lebensniveau ermöglichen als sie es selber haben, würde das nicht nur bei diesen zu schlechter Stimmung und Ablehnung führen, sondern wäre auch ungerecht.

Was wird unter Leistung verstanden

Das zweite zentrale Prinzip ist das der Leistungsgerechtigkeit. Es wäre falsch, diese als ein kapitalistisches oder neoliberales Prinzip zu betrachten, sondern es kommt hier darauf an, was unter Leistung verstanden werden soll. Die extrem ungerechten kapitalistischen Verteilungsverhältnisse beruhen gerade nicht auf Arbeitsleistung, sondern auf Ausbeutung, kapitalistischer Aneignung unbezahlter Arbeit.

Tom Strohschneiders Kritik geht an dieser klassenpolitisch zentralen Frage vorbei. Der Neoliberalismus sagt »Leistung«, aber meint Erfolg und die Anerkennung jeglicher Marktergebnisse als »gerecht«. Wenn demgegenüber Leistung als Arbeitsleistung verstanden und im Wesentlichen an der Quantität der notwendigen Arbeit festgemacht wird, ist eine auf Leistung und Gegenleistung beruhende Gerechtigkeitsvorstellung sozialistisch und links (siehe oben auch bei Marx).

Das schließt auch als angemessen betrachtete Ungleichheiten der Bewertung unterschiedlicher konkreter Arbeiten entsprechend ihrer Qualität und der dazu erforderlichen Qualifikation ein. Eine solche Leistungsgerechtigkeit wird von der großen Mehrheit der Bevölkerung geteilt und unterstützt, insbesondere auch in der arbeitenden Klasse. Es ist politisch völlig sinnvoll und war eines der Erfolgsrezepte der Arbeiterbewegung, dies antikapitalistisch gegen den unverdienten Reichtum der herrschenden Klassen zu wenden.

Was Solidarität bedeutet

Zu einer solchen breit geteilten Gerechtigkeitsvorstellung gehört auch, dass von den Menschen erwartet wird, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten versuchen, durch eigene Arbeit und Anstrengung zur Deckung ihrer Bedarfe beizutragen und von anderen bzw. der Gesellschaft bzw. dem Staat nur das verlangen, was sie nicht selber leisten können. Solidarität bedeutet nicht nur Hilfe für die Bedürftigen, sondern auch, dass sich alle an gemeinsamen Anstrengungen beteiligen und dies von ihnen auch erwartet werden kann, um die Lage zu verbessern.

Eine Erwerbsarbeit anzunehmen, auch wenn es nicht der Traumjob ist, gilt als zumutbar, nicht zumutbar auch aus Sicht der meisten Beschäftigten ist lediglich, wenn dabei Qualifikationen und faire Einkommensansprüche grob missachtet werden oder andere Bedingungen besonders schlecht sind. Die Gerechtigkeitsvorstellungen gerade in der arbeitenden Klasse beruhen sehr stark auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und darauf, dass Menschen nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben im Interesse der Gemeinschaft.

Es ist aus dieser Gerechtigkeitsvorstellung auch klar, dass Menschen, die arbeiten, oder die durch Arbeit und Beitragsleistungen einen Anspruch erworben haben, mehr bekommen sollten als diejenigen, für die das nicht zutrifft. Nicht nur Erwerbsarbeit, sondern auch Erziehungs- und Pflegeleistungen anzuerkennen ist dabei nicht nur aus linker Sicht geboten, sondern auch vermittelbar. Das gilt aber nicht für beliebige frei gewählte Tätigkeit oder Muße, deren Nutzen für die Gesellschaft von dieser nicht anerkannt ist.

Auch das Prinzip der Äquivalenz zwischen geleisteten Beiträgen und Rentenansprüchen gilt den meisten Menschen grundsätzlich als gerecht. Es ist durch bedarfsgerechte Leistungen und einen Ausgleich von Benachteiligungen oder eine Begrenzung von hohen Leistungen zu modifizieren, nicht aber abzuschaffen. Das Motiv der Sicherung des im Erwerbsleben erreichten Lebensstandards im Alter, bei Krankheit oder dauerhaft verminderter Erwerbsfähigkeit oder unfreiwilliger Arbeitslosigkeit spielt eine große Rolle und gilt als gerechtfertigt.

Die Linke muss diese Gerechtigkeitsvorstellungen in ihrer Programmatik und Politik berücksichtigt, sich jedenfalls nicht in Gegensatz dazu setzen und sie abwerten. Andernfalls dürfte sie sich über begrenzte Verankerung und Rückhalt unter den Lohnabhängigen nicht beschweren. Der Anspruch, sie würde sich auf die arbeitende Klasse beziehen, würde sich dann als hohles Gerede darstellen.

Ralf Krämer arbeitet als Gewerkschaftssekretär. Er ist Mitglied im Parteivorstand und einer der SprecherInnen der Sozialistischen Linken in der Partei DIE LINKE.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1062503.was-ist-schon-gerecht.html
  2. http://www.mlwerke.de/me/me19/me19_013.htm