Hannovers neue Flüchtlingspolitik

Niedersachsens Regierungschef schwenkt auf Wohnortauflagen um - zunächst im Einzelfall

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Sieht Regierungschef Stephan Weil mit Blick auf die nahende Landtagswahl schon das SPD-Grünen-Bündnis verdämmern und am Horizont eine Große Koalition erscheinen? Versucht der Sozialdemokrat, sich der Union zu nähern mit einem verfrühten Brautgeschenk in Form einer Flüchtlingssperre für Kommunen im zweitgrößten Bundesland?

Ein Schritt, der so ganz nach CDU-Geschmack sein dürfte und nun zunächst für das 106 000 Einwohner zählende Salzgitter im Südosten Niedersachsens realisiert wird. Rund 5700 Flüchtlinge wohnen dort bereits, für weitere ist die Stadt fortan tabu, verkündete Weil am Freitag. Ausgenommen sind Härtefälle und zuziehende Familienangehörige bereits ansässiger Flüchtlinge.

Auch für Wilhelmshaven und das bei Bremen gelegene Delmenhorst will das Land solch eine Zuzugsbremse prüfen. Auch in diesen Orten hätten sich, wie in Salzgitter, in besonders kurzer Zeit besonders viele Flüchtlinge niedergelassen. Das belaste die Kommunen.

Für diese hatte Weil neben der unsichtbaren, Flüchtlinge abwehrenden Mauer auch einige durchaus flüchtlingsfreundliche pekuniäre Bonbons mitgebracht: 20 Millionen Euro für Integrationsprojekte. Salzgitter wird davon voraussichtlich elf, Wilhelmshaven fünf und Delmenhorst vier Millionen bekommen. Von diesem Geld wollen die Städte Kindertagesstätten bauen oder erweitern und den Zugang von Flüchtlingen zum Arbeitsmarkt sowie lokale Integrationsprojekte fördern.

Jene Finanzhilfe sei zu begrüßen, betonen sowohl Weils grüner Koalitionspartner als auch der Niedersächsische Flüchtlingsrat. Beide verurteilen jedoch zugleich die Zuzugssperre, im Behördendeutsch »negative Wohnsitzauflage« genannt. Sie sei »ein herber Rückschlag für die menschenrechtsbasierte Flüchtlingspolitik in Niedersachsen«, meint Belit Onay, kommunalpolitischer Sprecher der Landtagsgrünen.

Die Sperre stigmatisiere Schutz suchende Menschen und auch die betroffenen Orte, gibt der Abgeordnete zu bedenken. Der von Weil angekündigte Schritt sei integrationsfeindlich und stehe im Widerspruch zur Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes. Gemäß Genfer Flüchtlingskonvention müssten Aufnahmeländer anerkannten Flüchtlingen das Recht gewähren, ihren Aufenthalt zu wählen und sich frei zu bewegen, zitiert Onay. Daran sei auch Niedersachsen gebunden.

In den dort nach dem Platzen der Regierungskoalition aus SPD und Grünen am 15. Oktober stattfindenden Landtagswahlen sieht der Flüchtlingsrat den Hintergrund der Zuzugsbeschränkungen. Sie seien »allein dem Wahlkampf geschuldet und einer sozialdemokratischen Regierung unwürdig«, heißt es in einer Stellungnahme der Organisation.

Diese vermutet, dass sich der Ministerpräsident bei der Union als potenziellem Koalitionspartner anwanzen möchte. »Es scheint, als wolle Weil in vorauseilendem Gehorsam schon jetzt die Maßnahmen einer möglichen CDU-geführten Landesregierung in Kraft setzen, um mit Verweis auf die angeblich problematische Gruppe der anerkannten Geflüchteten seine Abwahl zu verhindern«, schreibt Laura Müller vom Flüchtlingsrat zur Zuzugssperre.

Ermöglicht worden war diese Maßnahme 2016 durch ein Bundesgesetz. Ob und wo sie verhängt wird, bleibt den Ländern überlassen. Niedersachsen hatte bisher keinen Gebrauch davon gemacht. Mit seinem Umschwenken streichelt er nun auch den Niedersächsischen Städtetag. Der hatte eine Zuzugsbeschränkung für Städte gefordert, in denen auffallend viele Flüchtlinge leben. Der Präsident dieser Organisation heißt Frank Klingebiel (CDU) und ist - Oberbürgermeister von Salzgitter.

Dort soll in einer Woche die Sperre in Kraft treten. Gibt es noch Möglichkeiten, sie zu verhindern? Niedersachsens stellvertretender Ministerpräsident, Umweltminister Stefan Wenzel (Grüne) sagte dem NDR: Ob sich die Zuzugsbremse rechtlich umsetzen lasse, daran habe er »gelinde gesagt etwas Zweifel«.

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