Kein Interesse an Wohnungslosen

Das Thema taucht in den Bundestagswahlprogrammen der meisten Parteien überhaupt nicht auf

  • Aert van Riel
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Meldung vom vergangenen Winter, dass die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland angestiegen ist, hat bei den meisten der hiesigen Parteien keine großen Reaktionen ausgelöst. Obwohl nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) die Zahlen seit dem Jahr 2010 von 248 000 auf zuletzt 335 000 gestiegen sind, wird das Thema in vielen Wahlprogrammen schlicht ignoriert. Eine Ausnahme sind die Grünen. Sie haben immerhin registriert, dass die »Abwertung von Obdachlosen« neben Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in »rechtsextremen Strukturen und rechtspopulistischen Bewegungen wie im Alltag« vorkommt. Dies gelte es zu bekämpfen. Konkrete Schritte zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit finden sich aber nicht bei den Grünen.

Die LINKE fordert immerhin eine öffentliche Statistik und »ein Gesamtkonzept gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit«. Nordrhein-Westfalen ist bislang das einzige Bundesland, das eine Wohnungslosenstatistik führt. Die Institutionen der Wohnungslosenhilfe müssten aus Sicht der LINKEN finanziell gestärkt werden.

Wohnungslose sind offensichtlich als Unterstützergruppe für die meisten Parteien nicht sonderlich interessant. Obwohl es Nichtwähler in allen Schichten gibt, liegt die Wahrscheinlichkeit sozial Benachteiligter deutlich höher, der Wahlurne fernzubleiben.

Hinzu kommt, dass unter den Betroffenen viele Migranten sind, die in Deutschland kein Wahlrecht haben. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hatte 2015 einen Zuwachs auf 536 000 wohnungslose Menschen bis 2018 prognostiziert. Sie geht aber davon aus, dass die tatsächliche Zahl um mehrere Hunderttausend Menschen darüber liegen könne, weil die meisten anerkannten Flüchtlinge wegen der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt lange in Notunterkünften bleiben müssen. Frauen sind seltener als Männer betroffen. Betroffen waren nach den jüngsten Zahlen aus dem Jahr 2014 rund 29 000 Minderjährige und 306 000 Erwachsene, davon in 220 000 Fällen Männer.

Laut Definition der BAG W sind wohnungslose Menschen sowohl solche Personen ohne Unterkunft als auch solche, die vorübergehend bei Freunden und Verwandten unterkommen oder in Behelfs- und Notunterkünften beziehungsweise in Unterkünften für Wohnungslose leben - institutionell untergebracht oder selbst zahlend. In Deutschland leben schätzungsweise 40 000 Wohnungslose auf der Straße. Seit dem Beitritt der DDR zur BRD im Jahr 1990 sind hierzulande mindestens 290 Obdachlose erfroren.

Nach Einschätzung von Susanne Gerull, Berliner Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, sind Wohnungslose keine homogene Gruppe. So würden sich darunter sowohl Menschen aus seit Generationen benachteiligten Familien als auch ehemalige Professoren, Ärzte, Facharbeiter oder Künstler befinden. Ursachen für den Verlust der Wohnung könnten Suchtmittelabhängigkeit oder auch Sanktionen des Jobcenters sein. Die Bundesregierung hat durch ihre Politik die Probleme verschärft. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit wies kürzlich darauf hin, dass die verschärften Sanktionen für junge Menschen unter 25 Jahren im Hartz-IV-Bezug besonders hart sein und zum Verlust des gesamten Regelsatzes, auch der Kosten für Unterkunft und Heizung führen könnten. Dass auch fehlender bezahlbarer Wohnraum eine der Hauptursachen für das Problem ist, leugnete die Bundesregierung kürzlich in einer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion.

In allen Bundesländern ist ein Unterbringungsanspruch für jeden Menschen, der unfreiwillig wohnungslos ist, gesetzlich festgeschrieben. Allerdings gibt es einige Lücken. So verweigern einige Kommunen Obdachlosen aus anderen EU-Staaten, die zumeist aus Osteuropa kommen, im Unterschied zu Asylbewerbern und deutschen Obdachlosen die dauerhafte Unterbringung in städtischen Übernachtungsstätten. Zur Begründung heißt es, man wolle keine »Anreize« für die Menschen schaffen, nach Deutschland zu kommen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal