nd-aktuell.de / 10.03.2007 /

Hütet euch vor ... - ja, vor wem?

Überraschung: Ein Lexikon widmet sich einzig und allein den Historikern der DDR

Karlen Vesper
Zwei Fragen vorab: Gibt es einen Fluch der bösen Tat? Dies geflügelte Wort kursiert jedenfalls momentan in Kreisen ehemaliger DDR-Historiker. Lothar Mertens ist verstorben. Zweitens: Kann die gesamte Auflage eines biografischen Sammelsuriums über eine »verschwundene« Spezies in kürzester Frist vergriffen sein? Diesen Bescheid jedenfalls erhielt ND im Herbst vergangenen Jahres vom Verlag auf die Bitte, ein Rezensionsexemplar des »Lexikons der DDR-Historiker« zugesandt zu bekommen. Man mochte es nicht so recht glauben.

Tabellen und Fabeln
Sollten etwa alle der über 1100 in kaum zu übertrumpfender Kürze vorgestellten Geschichtswissenschaftler ein (oder zwei/drei) Exemplar(e) gekauft haben? Das sprengt die Vorstellung, allein ob des stattlichen Preises. So blieb nur die Vermutung (vielleicht zu Unrecht), das Münchener Editionshaus wollte nicht sorecht: Weil es ad eins weiß oder ahnt, dass von den hier zwischen zwei Buchdeckel gepressten Jünger der Klio zu Zentralorgan-Zeiten grob geschätzt die Hälfte und hernach, Pi mal Daumen, noch etwa ein Drittel schrieb und schreibt? Und ad zwei der Verlag schon die Empörung einiger zu spüren bekam, die Mertens auserkorenen hatte, um sein Vorurteil und seinen Vorspruch zu stützen: »Da unter den hier angeführten DDR-Historikern auch zahlreiche Parteiideologen zu finden sind, sei für die Einordnung eine unparteiliche Losung in Abwandlung von Matthäus 7, 15-16 gewählt: "Hütet euch vor den falschen Historikern ... An ihren Schriften werdet ihr sie erkennen."«
Welche Schriften hinterlässt eigentlich Mertens, langjähriger Professor in Bochum, bevor es ihn 2004 in den Osten verschlagen hat? Aus der Feder des 1959 geborenen studierten Historikers, Soziologen und Theologen (katholisch selbstredend) flossen Publikationen wie »Humanistischer Sozialismus? Der Umgang der SED mit der Bevölkerung, dargestellt an ausgewählten Gruppen«, »Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur«, »Rote Denkfabrik? Die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED« sowie »Priester der Klio oder Hofchronisten der Partei?«. Es sei mit der Auflistung der Titel Genüge getan, wie sich auch Mertens in seinem »Lexikon« mit der Nennung von Buchtiteln begnügt. So erfährt man denn auch nicht so recht, mit welchen geschichtlichen und methodischen Fragen sich die jeweiligen Fachhistoriker herumschlugen und wo denn, über den »Parteiauftrag« hinaus, für die Historiografie (nicht nur die deutsche) bahnbrechende Leistungen erbracht worden sind. Die von Mertens nicht unterschlagene Zugehörigkeit zu internationalen Gremien oder Mitgliedschaft an Akademien des Auslands dürfte zwar den willigen Leser Verdienste vermuten lassen, aber schlauer wird er nicht.
Fragt man in der Jawaharlal Nehru Universität von New Delhi nach den Indologen Walter Ruben, so wird das Begrüßungs-Namasthe kein Ende finden. Die Leipziger Revolutionsforscher Walter Markov und Manfred Kossok werden nicht nur von den Geschichtsschreibern der Grande Nation geschätzt. Obwohl schon im 80. Lebensjahr stehend, eilte Altertumswissenschaftler Johannes Irmscher nach Rom, einem Ruf der Community folgend; er starb an der Stätte jener Kultur, die sein lebenslanger Forschungsmittelpunkt war. Und seine »Sämtlichen Fabeln der Antike« sind weiterhin begehrt. Es überrascht nicht, da bekannt, dass er in Mertens Tabelle ehemaliger NSDAP-Mitglieder unter DDR-Professoren auftaucht. Eine Liste der aus Illegalität, Emigration und KZ kommenden bietet der Autor nicht, diskreditiert aber jene in seiner »Einführung« mit Zitatenschnipseln. Zudem: Keiner auf seiner Liste der formellen PGs hat in der DDR eine solch exponierte Stellung eingenommen wie in der Bundesrepublik etwa Theodor Schieder und Werner Conze, die in Hakenkreuz-Jahren munter vom Katheder Lebensraum, Germanisierung, Judenlösung gepredigt haben. Und Conze dient Mertens als ein Kronzeuge bei der Aburteilung der DDR-Historiker!

Offene Wunden
Gewiss, falsch ist nicht alles, was der Autor über die »personelle Umstrukturierung der Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR nach 1945« bemerkt, so zur Vertreibung »bürgerlicher« Wissenschaftler in den 50er Jahren unter dem Vorwurf der »Unwissenschaftlichkeit«. Was die viel zu lange und viel zu folgsam ausgeübte Verbiegung und Verleugnung eigener Erkenntnisse im Sinne der Sache und kompatibel zur Parteilinie betrifft, so haben sich DDR-Historiker dazu selbst mehrfach und ausführlich selbstkritisch geäußert (mancher übertrieb die Kasteiung). Ohne deren Bekenntnisse und Geständnisse nach 1989 hätte Mertens seine »Einführung« gar nicht verfassen können. Der Autor bohrt in offenen Wunden. Hätte er doch mehr Mühe darauf verwandt, die Gründe für Brüche in Biografien von DDR-Historikern auszuleuchten, statt es bei Schlagworten wie »Titoismus«, »Trotzkismus« etc. zu belassen. Das hätte indes seine Pauschalverdammung durchkreuzt.
Einem nachgeborenen Benutzer des Lexikons wird sich nicht erschließen, was zu Alfred Meusel geschrieben steht, der 1933 von den Nazis aus dem deutschen Universitätsbetrieb ins Exil gejagt worden ist und u. a. Gründungsdirektor des Berliner Museums für Deutsche Geschichte war. Mertens etikettiert ihn als »wohl einflussreichsten DDR-Historiker, d. sich f. d. Durchsetzung d. SED-Machtmonopols in d. Geschichtswissenschaft einsetzte«, zugleich auch als »Gegner d. Bildung e. eigenständigen DDR-Historikerverbandes«. Wie das zusammengeht, wird nicht ersichtlich. Scheinbare und wirkliche Widersprüche zu ergründen, ist des Autors Sache nicht. Irreführend und rufmordend ist die lapidare Notiz über den Buchenwaldhäftling und in der DDR wiederholt abstrusen Verdächtigungen ausgesetzten Walter Bartel: »1935 Ausschluss aus d. KPD "wegen Feigheit" (Verpflichtungserkärung f. d. Gestapo).« Wie ostdeutsche Historiker die Geschichtsforschung des vereinten Deutschland durchaus bereichern, ist Mertens keine Hervorhebung wert. Zwar ist aus winziger Schrift herauszulesen, dass z. B. ein Team unter dem Hallenser Otfried Dankelmann ein »Biographisches Lexikon zur Weltgeschichte« 2001 im Europäischen Verlag der Wissenschaften Peter Lang herausgab, aber sachlich-anerkennende Urteile finden sich weder hier noch da.

Weisheit aus Akten
Unverschämt salopp respektive falsch sind Mertens Kommentare zur Abwicklung der DDR-Historiker: »wegen fehlenden Bedarfs« oder »mangelnder fachlicher Qualifikation«. Dreist ist die Behauptung, die Entlassenen würden »auf Kosten der Steuerzahler« weiter forschen. Ganz sträflich bei einem Lexikon - zumal hier ja nicht über Personen verhandelt wird, die vor Christi Geburt das Licht der Welt erblickten - ist die völlige Abwesenheit von Geburts- und gegebenenfalls Todesdaten bei einer nicht geringen Zahl der mit einem Eintrag bedachten Historiker. Da stellt sich die Frage, woher Mertens überhaupt seine Informationen bezog. Aus Personalakten. Und aus der Birthler-Behörde.
Bezeichnend und kurios zugleich, wie Mertens im Vorwort prophylaktisch Kritik abzuwehren versucht: »Einzelne der Aufgenommenen werden vielleicht einige der angegebenen Bezeichnungen oder Daten als nicht richtig bezeichnen. Da diese zumeist jedoch aus den Dissertationsläufen sowie den Angaben in den Zeitschriften ... entnommen wurden, wären bereits diese (Selbst-)Angaben falsch gewesen.«

Lothar Mertens: Lexikon der DDR-Historiker. K.G. Saur, München 2006.675 S., geb., 180 EUR.
Am heutigen Sonnabend lädt das Ostdeutsche Kuratorium zum Kolloquium »Priester der Klio?«, 10 bis 18 Uhr, Franz-Mehring.Pl. 1, 10243 Berlin.