Kniefall und Kriegsfall

»Ewig aktuell - Aus gegebenem Anlass«: gesammelte Publizistik von Martin Walser

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Wenn ein guter Erzähler Zeitungsartikel schreibt, dann kommt er darin als Mensch vor - im Gegensatz zum Journalisten, der in Texten landläufig als Meinung vorkommt. Wenn Erzähler Kolumnen oder Kommentare schreiben, dann erfahren sie sich erst während des Notats - wer Leitartikler ist, der weiß vorher. Vielleicht schreibt man Leitartikel gar nicht, man verfasst sie, denn man ist gefasst gegenüber der ganzen Welt, gar vorgefasst - während den Erzähler immer irgendetwas fassungslos hält. Leitartikler bewirtschaften den flotten Vorrat des Abrufbaren; das Leben ist für sie Gesinnungsbeute - für jede Wahrheit gibt es Tasten, die man nur zu drücken braucht. Wort für Wort. Dem Erzähler dagegen, agiert er als Publizist, bleibt das Leben etwas, in das er sich hineintastet. Buchstabe für Buchstabe. Frage für Frage.

Martin Walser ist von den Erzählern der für mich aufregendste Wahrnehmer von Mensch und Gesellschaft, vom Menschen in der Gesellschaft. »Ewig aktuell - Aus gegebenem Anlass« heißt die Sammlung publizistischer Texte von 1959 bis 2016; das Buch belegt jene große Gabe Walsers, die ihn seit jeher beflügelt und peinigt: sein Talent zur Selbsterregung, die dann unbedingt öffentlich werden muss. Der Band enthält neben Artikeln auch Rede-Texte, und wenn Walser eine Rede hält, hält er nichts zurück - die meisten seiner Reden halten auch ihn nicht, sie lassen ihn nicht ins Denken gleiten, sondern stürzen, und wer nun hinzufügt: ins ungeschützte Denken, hat schon eine Tautologie produziert. Geschütztes Denken ist nicht Denken, es ist Präparation.

Zu lesen sind Beiträge gegen erstarkende Restauration und Antikommunisten, gegen Notstandsgesetze und Altnazis, gegen die CDU wie die SPD. Großartige kristalline Porträts und Nachrufe hat er geschrieben, etwa auf Rudolf Augstein und Max Frisch. Er kann blitzgleißend wettern und vor Zuneigung leuchten. Alle Farben des Daseins beleben ihn. Nie Festlegung, immer Beweglichkeit. Haltung ja, aber kein Gesinnungsbeton. Auflebt noch einmal Walsers Protest gegen Washingtons Vietnamkrieg. Golo Mann hatte damals der westeuropäischen Politik den Rat für ein »höfliches trauriges Schweigen« gegenüber US-Amerika gegeben. Walser fragte angesichts Millionen unschuldig Getöteter: »Wie macht man das, ›höflich und traurig schweigen‹?« Schon galt er den West-Apologeten als Kommunist, also: moralisch nicht befugt. Walser: »Keine Moral, die nicht ihre eigene Heuchelei produziert. Dafür sorgt der Zeitgeist.«

Der Zeitgeist kann sich links und rechts zugleich aufhalten. Der Autor sprach sich 1988 gegen die deutsche Teilung aus, weil sie keine Strafe wegen Auschwitz sei und als solche moralisch auch nicht missbraucht, also nicht zur Einschüchterung benutzt werden dürfe (dies war Thema auch der bezwingend wahrhaftigen Rede 1998 in der Frankfurter Paulskirche) - nein, die Teilung sei eine Folge des Kalten Krieges, demnach werde sie nur von Moskaus und Washingtons Interessen aufrechterhalten (und tatsächlich: Wie schnell ließ wenig später Moskau die DDR fallen!). Da hieß es über Walser ganz schnell, seine Argumente stammten aus Hinterzimmern, »in denen Versammlungen kleiner Rechtsparteien« stattfinden. Jetzt, in der schon lange gelebten Demokratie, verteidigen diese Linken, denen 1989 die geistige Freiheit geschenkt wurde, das Grundgesetz, als hätten sie es erfunden. Aber noch in der Polemik spürt man bei Walser: Mehr als gegenzureden, gönnt er. Und wenn er also über die Wirkung von Ideologie nachdenkt, klingt ein Ton Verständnis durch: »Wenn man einer Illusion zur rechten Zeit verfällt, verliert sie ihre Kraft nie mehr ganz.«

Die Welt ist schön und scheußlich. Wer nun ausdauernd das Scheußliche (speziell deutsche Scheußliche) benennt - aus welchen Gründen tut er es? Um wachzurufen? Oder aber um vorsätzlich wehzutun? Deutsche tun sich gern weh, sie halten Selbsthass schon für Weltbürgertum. Walser hat in dem Zusammenhang den Begriff des »Oppositions-Opportunismus« gefunden, das ist: unbedingt gegen etwas sein, nur weil es deutsch und bürgerlich ist. Gegen alle antideutsch speichelnden Mundwinkel dichtet er Heines Schlaflosigkeit um: »Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann schlaf ich weiter bis halb acht.«

Grandios schreibt er über Ernst Bloch, über dessen Abkehr vom »Tendenz-Sinn des Marxismus«, er ist Verfasser einer »Utopie, die sich nicht mit dem Erfinden besserer Abwasseranlagen, klügerer Verfassungen und milderer Klimata beschäftigt, sondern der eine Utopie des menschlichen Heils entwirft und dabei ohne Gott auszukommen versucht.« Walser schreibt bezaubert über Kafkas Briefe, und immer wieder kommt es zu Sätzen, nach denen man süchtig werden kann: »Das Licht, in dem uns jemand erscheint, stammt immer aus uns selbst.« Schreibt über den Kniefall Bastian Schweinsteigers nach dem verlorenen Fußball-Halbfinalspiel 2010 gegen Spanien: »Ich habe gedacht: So knien, so sich beugen kann nur einer, der gerade verloren hat. Die, die gewonnen haben, sind nicht halb so eindrucksvoll wie die, die verloren haben.« Und einmal mehr zog er sich Zorn zu, weil er, gegen die Kriegsbeteiligung in Afghanistan, an Angela Merkel geschrieben hatte: »Ich bin gegen Krieg, weil ich glaube, die Deutschen müssen gegen Krieg sein dürfen, ohne Angabe von Gründen. Wir haben etwas hinter uns, was uns kriegsuntauglich machen darf. Mögen andere Krieg führen, wir nicht. Nicht mehr.«

Diese Publizistik kommt aus Zeiten, die den veränderungsemphatischen Intellektuellen schufen, der die praktischen Bedürfnisse nach Freiheit und Würde höher ansetzte als die Bespiegelung des eigenen Nabels. Herrschaft ist diesem Autor nichts Erledigtes, also ist ihm auch Knechtschaft nichts Erledigtes. Allerdings, so Walser: »Druck und Ausdruck von Herrschaft sind jetzt so sublim, dass die Intellektuellen am Erlebnis ihrer Überflüssigkeit eingehen oder sich in narzisstische Orgien retten.«

Sinnleere, Oberflächlichkeit, Infantilität - für ihn Symptome unserer Zeit. Sie haben sehr viel zu schaffen mit den Zumutungen einer Ökonomie, gegen die sich Politik leider nichts Couragiertes mehr zumutet. Sie haben zu tun mit einem medialen Moloch, der ungehemmt Sinn und Verstand seiner Konsumenten auffrisst. Walser sieht die Pflicht des Intellektuellen daher in unnachgiebiger öffentlicher »Mündigkeitsarbeit« - angesichts der Wahrheit, dass so vielen gebeutelten Menschen nur eines bleibt: die dunkle Ahnung der Ungerechtigkeit, das stumme Empfinden der Ohnmacht, das beklemmende Schweigen über die Ausbeuter. Angesichts dessen sollte der Intellektuelle dem Politischen nicht mehr das Wort reden? Und dieses Wort sollte nicht mehr grundsätzlich sein? Nur weil sich hierzulande zwei Diktaturen erledigt haben? Man lese Walser und weiß es sofort anders.

Er liebt die USA und schreibt deshalb 2004 gegen die Hörigkeit gegenüber den Irak-Invasoren: »Unsere Politmoral-Intellektuellen glauben offenbar noch, man könne auf der richtigen Seite sein. Ich halte das für einen Wunsch, der nach dem Kindergarten nicht mehr erfüllt werden kann.« Walser schreibt nicht schlechthin, ihm geht Sprache zur Seite. Freilich: als Autor »das Wort zu empfinden heißt, die eigene Einsamkeit mitzuteilen.« Einsamkeit entsteht durch Eigensinn. Das Höchstmögliche an Eigensinn? »Nichtausruhen im Negativen. Nichthaltmachen im Beweisbaren. Also: Bewegbarkeit. Keine erreichte Position verdient es, dass man sie feiere, als habe man sie angestrebt und sei jetzt am Ziel.« Ein Satz für Parlamente und Redaktionen, für Regierungsbänke und Meinungsseiten. Einmal schreibt er: »Dass du einen sehr angenehmen Abend mit Theo Waigel verbracht hast, das wird bei jedem neuen linken Angriff wieder als Munition aufbereitet. Ist das nicht doch ein bisschen jämmerlich? Das Leben mit solchen Überzeugungen bzw. Überzeugten verbringen zu müssen, kommt mir vor wie Atemnot.«

Und: »Ich glaube: Man ist Verbrecher, wenn die Gesellschaft, zu der man gehört, Verbrechen begeht.« Diesen Satz muss erst einmal hinschreiben, wer bekannt ist als jemand, der stets sich selber meint, wenn er die Welt bedenkt. Keiner hat so wahrhaftig antifaschistisch geschrieben wie Martin Walser. Von der Rede zur Kunstausstellung ehemaliger KZ-Häftlinge über seine Berichte von den Frankfurter Auschwitz-Prozessen bis hin zum Schönsten, was je einer über Victor Klemperer schrieb. Antifaschistisch meint: Besinnungsfähigkeit. »Deutsch ist: dazulernen können.« Können: Das ist Kunst, das ist Fähigkeit, das ist Möglichkeit, also Imperativ. Also Vieles. Wenn Martin Walser an einen Gott glaubt, dann ist es die Ambivalenz.

Martin Walser: »Ewig aktuell: Aus gegebenem Anlass«. Hrsg. von Thekla Chabbi. Rowohlt, 640 S., geb., 24,95 €.

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