Totale Auflösung des Sinns

Das Schauspiel Leipzig startet mit Ödön von Horváths »Kasimir und Karoline« in die neue Spielzeit

  • Tobias Schulz
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit »Kasimir und Karoline« inszenierte Regisseur und Intendant Enrico Lübbe sein fünftes Stück des österreichisch-ungarischen Schriftstellers Ödön von Horváth - in Leipzig, wo das Werk vor 85 Jahren seine Uraufführung erlebte. Horváths zehntes Drama lässt sich als Charakterstudie, als kritischer Kanon mit humoresken und selbstkritischen Zwischentönen lesen. Vor allem aber lässt der Text nicht nur verschiedene Lesarten zu, sondern fordert diese regelrecht ein und das jeweilige, mit der szenischen Umsetzung betraute Team, damit umso mehr heraus.

In der Leipziger Inszenierung verkehrt sich die Oktoberfest-Idylle in eine graue Einöde, das Bierzelt fährt als industrielle Wartehalle auf und von der Achterbahn bleibt lediglich ein wiederkehrendes Blitzen. Doch dieses Flackern vermag keinen Rhythmus vorzugeben, wirkt gar willkürlich eingesetzt und fungiert auch nicht anderweitig als Mittel zur Zeiteinteilung. So neigt es mit zunehmender Dauer dazu, den anfänglichen Charme zu verlieren. Diese Feststellung ist signifikant für die gesamte Inszenierung.

Die Bühne von Hugo Gretler im Stile Anna Viebrocks spielt mit dem Umstand der hohen Weite des Raumes und der matten Farbigkeit, hat aber gegenüber seinem offensichtlichen szenischen Vorbild deutlich das Nachsehen, fehlt es ihm doch an minimalistischer Stringenz und konsequenter Detailtreue.

Ein grundlegend interessanter Ansatz, der sich letztlich selbst um die Möglichkeit beraubt, sein Potenzial voll auszuschöpfen; der sich, insbesondere bezogen auf das Wechselspiel von Handlung und Spielort, in einem Wort zusammenfassen lässt: Auflösung! Und zwar die totale Auflösung jeglichen Sinnzusammenhangs, damit einhergehend der Verlust aller vermeintlich intendierten erzählerischen Tiefe.

Unentschlossenheit, Standpunkt- und Positionslosigkeit. Das sind die großen Probleme dieses Abends, die sich durch die gesamte, auf zweieinhalb Stunden ausgedehnte Vorstellungsdauer ziehen und den Akteuren merklich anhaften. Gerade weil der Abend mit Horváths »Kasimir und Karoline« eine so enorm breit assoziierbare und vielschichtig interpretierbare Vorlage bietet, ist es mutig, dass Lübbe gänzlich auf ernsthafte Vertiefungen und eine damit verbundene Fokussierung verzichtet. Schlussendlich aber wirkt es sich fatal aus, denn weder inhaltlich noch stilistisch wird hinreichend abstrahiert.

Das Spiel überhaupt ist schleppend, die Figuren wirken träge oder übermütig, aber übereinstimmend uneinheitlich. Dem Spiel fehlt eine klare Linie, wodurch es häufig dazu neigt, sich in Belanglosigkeiten zu verausgaben. Es ist schwerlich vorzustellen, dass den Spielern bei der Erarbeitung des Dramas viel Entscheidungs- und Entfaltungsfreiheit zuteil wurde. Kurzum: Alles wirkt nur allzu statisch und konstruiert.

Die Spieler halten sich haargenau an den Text, welcher durch keinerlei Fremdlektüre oder Einwürfe ergänzt, erweitert oder auch nur in Frage gestellt wird. Psychorealistisches Spiel von schulischer Texttreue.

Lobend hervorzuheben ist die musikalische Untermalung durch einen Chor unter der Leitung von Philipp Marguerre, der selbst zudem durch seine Verrophon-Begleitung glänzt. Die musikalische Darbietung ist solide, ja, aber der Chor ist nicht herausragend und wie bei so vielen Elementen an diesem Abend fehlt auch hier der Bezug zum Rest - die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt -, die über ein reines Bebildern des Textes hinausführt, hin zu den Abgründen und Höhenflügen der Stückvorlage.

»Angst oder Liebe«, so lautet das Motto der von Lübbe neu ausgerufenen Spielzeit. Ganz anders als in der Erläuterung hierzu eingefordert, wird nicht differenziert und ein Bild der »komplexen Lage der Gegenwart« sucht man vergeblich. Welcher politischen oder gesellschaftlichen Umbrüche nimmt sich diese Inszenierung an?

Leider findet man, wo man Subtilität erwartet, einzig Konventionalität und Konservatismus. Theater aus der Trickkiste - eine verstaubte obendrein. Aber was nicht gesucht wird, kann nur schwer gefunden werden - und die Zahlen scheinen der Intendanz recht zu geben. Die Inszenierung bleibt weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, wirkt starrsinnig, überkommen und mühevoll, anstelle Beharrlichkeit, Alltag und Fragilität zu suggerieren.

Vermeintliche Bruchstellen - etwa ein Zwischenspiel in Sideshow-Manier - wirken stark konstruiert. Auch wenn der anschließende Auftritt einer Kinderballettgruppe durchaus zu begeistern und die Stimmung aufzuhellen versteht, bleibt das künstlerische Verdienst fraglich und die Komposition als künstlerisches Resultat fragwürdig. Und das auch und gerade in Anbetracht einer Vielfalt von bestehenden szenischen Verarbeitungen dieses literaturhistorisch populären Textes.

Manchmal wartet man vergeblich auf die große Pointe. Darauf, dass sich dieses Stück als Auflösung anderer Art präsentiert, sich selbst entlarvt und eben diese Eintönigkeit selbst zum Thema der Inszenierung macht. Stattdessen wandelt man auf längst ausgetretene Pfaden. Aus Angst? Ein bisschen mehr Mut zum Irrtum hätte diesem Abend gutgetan.

Nächste Vorstellungen: 23. September; 6. Oktober

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