nd-aktuell.de / 20.09.2017 / Kommentare

Die RAF und wir

Was denken junge Aktivistinnen und Aktivisten heute über die Rote Armee Fraktion?

Lena Kreymann

Die Rote Armee Fraktion (RAF) hat sich 1998 aufgelöst, aber 40 Jahre nach dem Deutschen Herbst 1977 wird über sie wieder viel gesprochen und geschrieben. Wir haben nachgefragt, was junge Aktivist*innen heute noch mit der deutschen Stadtguerilla verbinden. Eine erste kritische Antwort kommt von der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SDAJ, Lena Kreymann.

Die Repression nimmt zu: seitens der Polizei bei Demonstrationen, seitens der Bundesagentur für Arbeit mithilfe immer schärferer Sanktionen oder durch Gesetze, die das Grundrecht auf Streik einschränken. Die Unzufriedenheit darüber nimmt nicht zu. Zumindest viel zu selten. Der Kapitalismus sitzt in Deutschland fest im Sattel. Für die revolutionäre Linke ist das kein gutes Zeugnis und manche werden ungeduldig. Das Bündnis »Ums Ganze« rief anlässlich der Blockupy-Proteste in Frankfurt dazu auf, mit dem Abriss der alten Gesellschaft anzufangen. Schon so manches Mobi-Video zu G20 zeigte ähnliches. Zeit wäre es dafür ja eigentlich. Der Kapitalismus ist schon lange unerträglich. Nicht ganz neu ist die Reaktion als Antwort darauf die Mittel zu radikalisieren. Vor 40 Jahren entführte die Rote Armee Fraktion (RAF) den früheren SS-Führer und späteren Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.

NS-Nachfolgestaat

Am 24.12.1947 wird in Nürnberg das Urteil gegen Friedrich Flick verkündet. Wegen Beschäftigung von Zwangsarbeitern, Aneignung von Fabriken in den ehemals von der faschistischen Wehrmacht besetzten Gebieten und Zugehörigkeit zum Freundeskreises SS Heinrich Himmler wird einer der wichtigsten Förderer und Profiteure der Naziherrschaft zu sieben (!) Jahren Gefängnis verurteilt. Im Bochumer Einsatzgruppenprozess wird der SS-Mann Langl wegen Beihilfe zu Mord an 1600 Juden zwar schuldig gesprochen, bleibt aber straffrei – schließlich war es »nur« Beihilfe. Auch alle Mitangeklagten bleiben auf freiem Fuß.

Die Bundesrepublik war kein demokratischer Neuanfang, auch wenn sie das gerne von sich selbst glauben machen möchte. Die beiden Urteile und die Tatsache, dass mit Hans Globke – ein Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze – unter Konrad Adenauer von 1953-1963 Chef des Bundeskanzleramts wurde, sind nur besonders offenkundige Beispiele. Flick trat bereits 1937, als die vierjährige Eintrittssperre endlich abgelaufen war, der NSDAP bei, spendete bereits ab 1933 größere Summen an die Partei, war mit dem Nazistaat aufs engste verflochten (vom Freundeskreises SS Heinrich Himmler über Aufsichtsräte von Flick im Reichsluftfahrtministerium bis zur Ernennung Flicks als Wehrwirtschaftsführer 1938). Der Faschismus legte die Grundlage für den Aufstieg Flicks zum reichsten Mann der BRD in den 1960ern – eben weil in der BRD, im Gegensatz zur DDR, die ökonomischen Grundlagen des Faschismus, seine Förderer und Profiteure nicht angetastet wurden.

1968

Vor diesem Hintergrund, aber auch z.B. unter dem Eindruck eines mit großer Brutalität geführten Kriegs des US-Imperialismus gegen Vietnam, entwickelte sich in der BRD ab Mitte der 1960 eine politische Bewegung unter der jungen deutschen Intelligenz, in der die anarchistische Strömung der sogenannten Antiautoritären großen Einfluss ausübte.

Zusammengefasst war deren Analyse: In den Metropolen sind die Massen manipuliert und ins System eingebunden. Sie haben kein Interesse an fundamentalen Veränderungen. Gleiches gilt für ihre Parteien und Gewerkschaften. Auch die kommunistischen Parteien in Westeuropa seien reformistisch. Die sozialistischen Staaten seien bürokratisiert, in den Parteien würden Prozesse der Verselbstständigung ablaufen. Übrig bleibe nur die Unterstützung des (Befreiungs-)Kampfs in der Dritten Welt. Die junge RAF ist ein Ausdruck dieser Revolte und ihrer Verzweiflung über die scheinbar versteinerten Verhältnisse und sie zieht entsprechende Schlussfolgerungen.

Abkehr von der Arbeiterklasse...

»Es ist nichts da, woran wir anknüpfen, worauf wir uns historisch stützen, was wir organisatorisch oder im Bewusstsein des Proletariats voraussetzen könnten, nicht einmal demokratische, republikanische Traditionen« (Aus: »Wir werden in den Durststreik treten«, in: Spiegel 4/1975).

Diese verabsolutierende Sichtweise ist für die RAF charakteristisch. In der Geschichte der Arbeiterbewegung werden ausschließlich die Niederlagen, nicht aber die Erfolge gesehen: Weder die revolutionären Anfänge der SPD, die Novemberrevolution, die KPD und ihr Kampf gegen den Faschismus, noch die Kampfaktionen der Arbeiterklasse nach der Befreiung vom Faschismus (insb. die Septemberstreiks 1969) tauchen in der Analyse der RAF auf. Die Arbeiterklasse ist vollständig und ohne Gegentendenzen in das kapitalistische System integriert. Sie ist als revolutionäres Subjekt (überhaupt als handelndes Subjekt) von der RAF aufgegeben worden – und gleichermaßen auch ihre Organisationen.

… und »Randgruppenstrategie«

»Den Jugendlichen im Märkischen Viertel habt ihr die Baader-Befreiungs-Aktion zu erklären, den Mädchen im Eichenhof, in der Ollenhauer, in Heiligensee, den Jungs im Jugendhof, in der Jugendhilfsstelle, im Grünen Haus, im Kieferngrund. Den kinderreichen Familien, den Jungarbeitern und Lehrlingen, den Hauptschülern [...]« (Aus: »Die Rote Armee aufbauen!«, in: agit 883, 05.06.1970).

Als »Ersatzsubjekt« entdeckt die RAF Teile der Bevölkerung für sich, die aufgrund ihrer besonderen Schlechterstellung, die Aktionen der RAF besser verstehen können sollen. Allgemein geht es vor allem um Jugendliche, insbesondere denen in den (geschlossenen) Heimen, besonders stark ausgebeuteten Teilen der Klasse, wie Frauen, junge Beschäftigte und Beschäftigte in »prekären« Arbeitsverhältnissen. Sie alle stehen in der RAF-Ideologie als potenziell revolutionäre Teile des Volkes, weil sie nicht durch Konsum ruhiggestellt würden.

Unberücksichtigt bleiben die Stellung der Klasse im Produktionsprozess und die sich daraus ergebende Macht, das Kapital durch gemeinsames Handeln empfindlich, nämlich in der Mehrwertproduktion, treffen zu können und die durch die Zusammenfassung in relativ großen Einheiten leichter zu machenden Erfahrungen von Solidarität und Stärke.

Klassenbewusstsein

Die RAF nähert sich damit einer Art Verelendungstheorie. Aber nicht wem es besonders schlecht geht, entwickelt revolutionäres Bewusstsein, sondern diejenigen, die praktische Kampferfahrungen mit theoretischen Erkenntnissen über ihre Lage in Verbindung bringen können. Die Vermittlung dieser theoretischen Kenntnisse ist dabei die Aufgabe der Revolutionäre.

Für die RAF ist Klassenkampf allerdings nur noch der bewaffnete Kampf, der bestimmten Teilen der Arbeiterklasse nur noch zu erklären ist – was die RAF freilich nicht daran hindert, mit dem Schießen schon mal anzufangen, denn: »Ohne gleichzeitig die Rote Armee aufzubauen, verkommt jeder Konflikt, jede politische Arbeit im Betrieb und im Wedding und im Märkischen Viertel und in der Plötze und im Gerichtssaal zu Reformismus, d.h.: Ihr setzt nur bessere Disziplinierungsmittel durch, bessere Einschüchterungsmethoden, bessere Ausbeutungsmethoden.« (Aus: »Die Rote Armee aufbauen!«)

Mit dieser Formulierung schließt die RAF an einem klassisch reformistischen Fehler an und dreht ihn um: Während die Reformisten Reformkampf und Revolution voneinander trennen und die (Agitation für die) Revolution als hinderlich für den Kampf um die Reform darstellen, ist bei der RAF der Reformkampf hinderlich für die Revolution. Beides ist falsch. Reform und Revolution bilden eine dialektische Einheit. In dieser ist der Reformkampf dem Ziel der Revolution untergeordnet wie ein Teil dem Ganzen. Reformen haben darüber hinaus einen Doppelcharakter: Sie können integrierend und systemerhaltend wirken. Genauso können Reformen aber auch mobilisierend sein. An ihnen können die Grenzen des Systems deutlich werden, weil sie sich im Kapitalismus als nicht oder nur teilweise umsetzbar erweisen und sie können geeignet sein, den prinzipiellen Interessenwiderspruch zwischen Produktionsmittelbesitzern und Lohnabhängigen zu erkennbar zu machen. In solchen Kämpfen kann gelernt werden, sich zu organisieren und zu erkennen, wer und was der Durchsetzung der eigenen Forderungen entgegensteht. Das geht, wenn es denn eine Kraft gibt, die sich nicht zu fein, nicht zu »radikal« und ungeduldig ist, um in diesen Kämpfen eine vorwärtstreibende Rolle zu spielen.

Der Klassenkampf muss dabei in allen Formen geführt werden – ökonomisch, politisch und ideologisch. Kein Kampfmittel darf prinzipiell ausgeschlossen werden. Das wird von der RAF fälschlicherweise damit gleichgesetzt, dass jedes Kampfmittel (oder zumindest die besonders radikalen) auch tatsächlich immer angewandt werden muss.

Primat der Praxis

Aber statt den alltäglichen Klassenkampf umfassend in allen Bereichen zu führen, geht die RAF direkt und ausschließlich zum bewaffneten Kampf über: »Die Rote Armee Fraktion redet vom Primat der Praxis. Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist; ob es möglich ist, ist nur praktisch zu ermitteln.« (Aus: »Konzept Stadtguerilla«, Abschnitt 4, April 1971). Über Folgen und Erfolg ist damit zwar nichts ausgesagt, wohl aber über die Auffassung der RAF von Gewalt. Die ist dann anzuwenden, wenn sie möglich ist, statt dann, wenn sie politisch zweckmäßig oder notwendig ist. Jede Praxis ist zudem auf den bewaffneten Kampf verengt.

Die Wahl der Kampfformen muss immer zweckmäßig am Ziel, der Abschaffung der Diktatur des Kapitals, die täglich in Form von Kriegen, Hunger, Armut, Ausbeutung und vielem mehr ihre Gewalttätigkeit beweist, ausgerichtet sein. Der Kampf ist nicht automatisch revolutionärer, bloß weil er gewalttätiger ist. In der Geschichte haben die Angriffe der Reaktionäre immer wieder gewaltsame Gegenwehr erforderlich gemacht. Der Reformismus hat Angst vor dieser Auseinandersetzung und konsequenterweise ließ die Führung der SPD die Partei 1933 widerstandslos verbieten und zerschlagen.

Repression

»Das ist die Dialektik der Strategie [...] daß durch [...] die Reaktion des Systems, die Eskalation der Konterrevolution, die Umwandlung des politischen Ausnahmezustandes in den militärischen Ausnahmezustand der Feind sich kenntlich macht, sichtbar - und so, durch seinen eigenen Terror, die Massen gegen sich aufbringt […].« (Aus: Texte: der RAF, Verlag Bo Cavefors, 1977, S. 62ff.)

Tatsächlich beantwortete der Staat die Aktionen der RAF mit Repression und Gewalt und er beließ es nicht nur bei der RAF. Die Gesetzesverschärfungen trafen letztendlich alle demokratischen Kräfte, alle Linken und Kommunisten und waren ein wichtiger Schritt beim Ausbau des Polizeistaats. Solche Maßnahmen des Staates können es erleichtern, ihm seine demokratische Maske herunterzureißen und Widerstand zu entwickeln. Das zeigte sich beispielsweise am Kampf gegen die Notstandsgesetze Anfang der 1960er.

Der Fehlschluss der RAF liegt darin, dass sie durch ihre Aktionen direkt die Legitimation für die Einschränkung der Grundrechte mitlieferten. Auch wenn viele Linke, trotz Ablehnung der RAF, die neuen Gesetze als das begriffen, was sie waren, waren sie doch für einen Großteil der Bevölkerung nachvollziehbar und wurden mitgetragen, weil es ja nur »gegen die Terroristen« ging. Letztendlich stärkte die RAF damit die Position des Staates.

Keine Abkürzungen

Die RAF - das waren vor allem pseudo-radikale Phrasen und Aktionen, die in der Praxis aber eine Schwächung der fortschrittlichen Kräfte bedeuteten. Wer revolutionäre Politik nur macht, weil er die Verhältnisse furchtbar unerträglich findet und deshalb mit ultra-radikalen Aktionen eine Abkürzung zur Revolution sucht, kann manchmal das Gegenteil des subjektiv Gewollten bewirken.

Die Gewalt der Polizei bei G20 stand in keinem Verhältnis zu dem der Protestierenden und trotzdem müssen wir uns fragen, ob das Abfackeln von (Polizei-)Autos und Entglasen von Schaufenstern uns gerade nützt oder eher Ausdruck der erwähnten Verzweiflung über die scheinbar versteinerten Verhältnisse ist. Letztere hat die RAF mit viel »radikaleren« Aktionen zumindest nicht zum Tanzen gebracht.