Bauernfängerei mit Prozenten

Bayerns Innenminister operiert freihändig mit Kriminalitätsstatistiken - ohne so der AfD Stimmen abzujagen

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Im 19. Jahrhundert setzten Parteien in den USA und Großbritannien auf das sogenannte »cooping«: Unentschlossene Wähler wurden entführt, besoffen gemacht und dann zur Wahlurne begleitet. In Bayern sagt man dazu seit Jahrhunderten Bauernfängerei. Die politische läuft zumeist in Bierzelten. Doch da erreicht man nur den trinkfesten Teil der Bevölkerung. Jenseits dieser traditionell-flüssigen Überzeugungsarbeit sind Prozente jedoch auch auf andere Art überzeugend. Wer kann schon Statistiken infrage stellen?!

Über die und die Deutungshoheit verfügt die Regierungspartei. Die CSU weiß auch, wie heiß Medien auf solche Zahlen sind. Spitzenkandidat und Freistaat-Innenminister Joachim Herrmann lieferte sie. In der vergangenen Woche legte er erschreckende Daten zur Sicherheitslage im Freistaat auf den Kabinettstisch. Dabei musste der politisch und auch sonst gewichtige Mann mit Ambitionen auf Bundesinnenministerwürden einen Spagat üben.

Einerseits behauptet er, Bayern sei das sicherste aller Bundesländer. Dank CSU. Zum anderen ist aber die Anzahl der Vergewaltigungen im ersten Halbjahr gestiegen. Laut Statistik auf 685. Das wäre ein Zuwachs um 48 Prozent. Erschreckend! Noch erschreckender war jedoch, dass bei Taten, die sogenannten Zuwanderern angelastet werden müssen, eine Steigerung um 91 Prozent auf 126 zu beklagen ist.

Kenner der Münchner Regierungsszene meinen, die planvolle Angst-, Wut- und Hasskampagne sei nicht auf Herrmanns Mist gewachsen. Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer habe das Thema nach oben gespielt, um seine Vorstellungen von einer härteren Gangart in der »Asylfrage« über die der AfD zu heben. Schließlich sind Forderungen nach mehr Grenzüberwachung, mehr Kontrollen, mehr Abschiebung und nach einer Obergrenze von 200 000 »Fremden« pro Jahr originäre Forderungen der Christsozialen.

Ein gewagtes Spiel, denn natürlich nutzte die AfD Herrmanns Vorlage trotzdem ausgiebig, um der Landesregierung schwere Versäumnisse vorzuwerfen. Und so tobte das Wort »Vergewaltigung« politisch instrumentalisiert und medial befördert durch die bayerische Provinz.

In der Tat fanden und finden sich dort entsprechende Vorkommnisse und Anzeigen. Im oberbayerischen Höhenkirchen beispielsweise sollen drei afghanische Asylsuchende über eine 16-Jährige hergefallen sein. So etwas berühre ihn »emotional so sehr«, sagte Seehofer: »Solche Nachrichten darf man nicht unterdrücken.« Doch Seehofers Gefühlswelt und Wahrheitsliebe verhinderte nicht, dass die AfD in Umfragen zulegt.

Bevor die Kanzlerin zur Wochenmitte wahlkämpfend nach Rosenheim kam, hatte sie in der ARD eine »Garantie« abgegeben, dass sie die von der CSU geforderte »Obergrenze«, also den Kern von Seehofers Strategie, weiter ablehnen werde. Das erboste den Chef der Schwesterpartei, immerhin hatte er sich seit dem Frühjahr in dieser Frage arg zurückgehalten. Man vermutet: Merkel sollte daher den ganzen Münchner CSU-Chef-Frust zu spüren bekommen. Die oberbayerische Bezirkschefin Ilse Aigner, die als Ministerin an Seehofers Kabinettstisch sitzen darf, empfing Angela Merkel dann auch zum Rosenheimer Auftritt vor 500 CSU-Menschen und einer stattlichen AfD-Pfeifergruppe mit dem direkten Hinweis auf eine gerade in Rosenheim stattgefundene mutmaßliche Vergewaltigung. Opfer ist eine Joggerin, mutmaßlich Schuldiger ein Asylsuchender aus Nigeria.

Merkel kam nicht umhin, zu versprechen, »alles, aber auch alles« zu tun, um Menschen das Gefühl und die Realität von Sicherheit zu geben. Aus CSU-Sicht kann sie das nur, mit einem Mann wie Herrmann an ihrem Kabinettstisch. Der hat nun - zunächst für Bayern - einen sieben Punkte umfassenden Plan abgesegnet. Um dem den Anstrich von Regierungshandeln zu geben, holte er seinen Ministerkollegen vom Justizressort mit vor die Presse. Der Plan enthält Positives. Beispielsweise will man Frauen in Asylunterkünften besser schützen. Denn in 40 Prozent der Fälle, in denen Zuwanderer Täter sind, sind es deren Opfer auch. Zudem will Herrmann verstärkte Polizeipräsenz an kommunalen Brennpunkten sowie das Umfeld von Asylunterkünften stärker überwachen. Intensive Fahndungs- und Ermittlungsmaßnahmen würden weitere Straftaten verhindern helfen.

Das Problem an der Kampagne? Herrmanns Prozente. Die behaupteten 685 Vergewaltigungen beinhalten nach der jüngsten Gesetzesverschärfung - Stichwort: nein heißt nein! - auch alle Angaben zu sexueller Nötigung. Die sind wahrlich in jedem einzelnen Fall schlimm genug und nach Recht und Gesetz zu verfolgen, nur als Statistikargument taugen sie nicht.

Zudem, so Experten, gebe es eine erhöhte Bereitschaft, Sexualdelikte zur Anzeige zu bringen, so dass mehr Fälle erfasst werden. Nimmt man nur die vergleichbaren, also die einer »überfallartigen Vergewaltigungen«, so sind sie von 68 auf 71 angewachsen. Was bedeutet, es handelt sich um eine Steigerung von fünf statt der hinausposaunten fast 50 Prozent. Und wie ist das mit den »Fremden«? Die Anzahl wuchs von neun auf 17.

Dumm gelaufen! Wahrheit und Wahlkampf passen eben nur selten zueinander.

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