nd-aktuell.de / 30.09.2017 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 8

Warten auf die Entschuldigung

Vor 60 Jahren kam Contergan auf den Markt - für die Opfer ist es nicht vorbei

Elke Silberer, Aachen

Sie bekommen höhere Renten, mehr Hilfsmittel, bessere medizinische Versorgung. Aber auch 60 Jahre nach Markteinführung des Missbildungen bei Embryos verursachenden Schlafmittels Contergan gibt es bei vielen Opfern noch Wut. »Sehr viele Contergangeschädigte machen bei dem Wort Grünenthal komplett zu. Sie wollen von Grünenthal nichts sehen und nichts hören, bis es eine Entschuldigung gibt«, sagt der Vorsitzende des Bundesverbands Contergangeschädigte, Georg Löwenhauser. »Es gibt bisher keine Entschuldigung für das Leid, das Grünenthal uns angetan hat.«

Entschuldigt hatte sich der Aachener Pharmakonzern im Jahr 2012 nur dafür, nicht früher auf die Opfer zugegangen zu sein. Internationale Opferverbände hatten das damals als wertlos oder sogar beleidigend bezeichnet.

Von Grünenthal heißt es in einer aktuellen Stellungnahme: »Anlässlich des 60. Jahrestags der Markteinführung von Thalidomid in Deutschland drücken wir unser aufrichtiges Bedauern zur Thalidomid-Tragödie und den Folgen für betroffene Menschen und ihre Familien aus.« In der Vergangenheit habe das Unternehmen dies bereits vielfach zum Ausdruck gebracht. »Auch wir wünschten, die Tragödie wäre niemals geschehen.«

Es gibt auch Geschädigte wie Löwenhauser oder Angehörige, denen gar nicht mehr so viel an einer Entschuldigung liegt - zumal die Eltern vieler Betroffener schon gestorben sind. »Die Vergangenheit werden wir nie mehr ändern können. Mir wäre wichtiger, dass wir die Zukunft gestalten«, sagt der Vorsitzende des bundesweit größten Opferverbandes. Bei dem emotionsbeladenen Thema Entschuldigung seien die Betroffenen sich nicht einig. Der Dachverband nehme darum auch kein Geld aus der von Grünenthal eingerichteten Stiftung für Betroffene in Anspruch.

Der größte Medikamentenskandal der Nachkriegsgeschichte Deutschlands begann am 1. Oktober 1957 mit der Markteinführung des Medikaments Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid durch das Unternehmen Grünenthal. Es wurde explizit als zunächst rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere empfohlen. Ende der 1950er Jahre kam es zu einer zunächst unerklärlichen Häufung von Missbildungen Neugeborener. Erst im November 1961 wurde das Mittel von Grünenthal vom Markt genommen. Weltweit kamen bis zu 10 000 geschädigte Kinder auf die Welt. Zudem kam es zu einer unbekannten Zahl von Totgeburten.

Von den laut Bundesverband Contergangeschädigter ungefähr 5000 Kindern, die damals allein in Deutschland mit schweren Missbildungen vor allem an Armen und Beinen zur Welt kamen, leben heute noch etwa 2400. Jetzt, im fortgeschrittenen Alter, stellt sich ihnen eine ganz neue Frage: Wurden durch den Wirkstoff vor der Geburt auch Gefäße geschädigt? »Es gab einen Fall, bei dem ein Herzkatheter gelegt werden sollte, wo die Ärzte nicht zum Herzen gekommen sind, weil die Blutbahnen anders lagen«, nennt Löwenhauser ein Beispiel, das diesen Verdacht nährt.

Bei einem anderen Conterganopfer seien gleich zwei Anomalien an den Gefäßen aufgetaucht: Blutgefäße waren demnach an einer Stelle, wo sie der Operateur nie vermuten würde. »Das hätte gefährlich werden können«, sagt der Verbandsvorsitzende. Schon vor fünf Jahren ging die Universität Heidelberg in einer Studie zur Situation Contergangeschädigter von Schäden auch an Gefäßen aus.

Was allerdings erst noch in einer Vergleichsstudie wissenschaftlich zu beweisen wäre. Die »Conterganstiftung für behinderte Menschen«, eine im Jahr 1972 gegründete Einrichtung des Bundes, bereitet nach eigenen Angaben eine solche Studie mit einem Expertengremium vor. »Um wissenschaftliche Ergebnisse zu bekommen, brauchen wir mindestens zwischen 450 und 500 Betroffene«, sagt Margit Hudelmaier vom Stiftungsvorstand. Parallel dazu müsse eine Gruppe ohne Conterganschäden untersucht werden

Ob es dazu kommt, hängt von der Entscheidung des Stiftungsrates bei dessen Sitzung am 16. Oktober ab. Das oberste Gremium der Stiftung, die finanzielle und andere Leistung für Geschädigte erbringt, war nicht zuletzt wegen seiner Zusammensetzung in der Vergangenheit immer wieder konfliktbeladen: Zwei Vertreter der Betroffenen stimmen zusammen mit drei Vertretern des Bundesfamilienministeriums ab. Auch wenn allein die Studie schätzungsweise 1,4 Millionen kosten wird, geht es um viel mehr: Je nach Ergebnis könnte es zu Forderungen nach höheren Entschädigungszahlungen kommen.

Zuallererst aber gehe es um die Betroffenen selbst, betont Verbandschef Löwenhauser: »Es ist wichtig, dass die Risikofälle wirklich wissen, was mit ihnen los ist und dass das in einem Notfallausweis vermerkt werden kann.« dpa/nd