Eine eigene Welt

Helga Schütz zum 80. Geburtstag

  • Christel Berger
  • Lesedauer: 3 Min.

Weil sie weg vom Großvater wollte und weil sie so gern ins Kino ging und eventuell einmal Filmvorführerin in einem Filmpalast werden könnte, studiert Elli im Roman »Sepia« (2012) Kinematographie in Potsdam-Babelsberg. Sie findet sich allmählich rein in das Fach und lernt, Geschichten für Filme zu entwickeln. Sie erkennt: »Das Tun im Kopf kennt keine Grenzen. Handlungen finden ihr Ende in einer Geschichte. Eine Geschichte besteht aus Worten. Ich habe Anna für ihre Argumente meine und unser aller Worte gegeben.« Diesmal also Anna (»In Annas Namen«, 1999). Sie könnte auch Jette oder Julietta heißen. Das alles sind Figuren, die manches gemeinsam haben: von Großeltern mehr oder weniger betreut oder in Heimen aufgewachsen, den Krieg noch in den Knochen, neugierig, aber unerzogen. Sie werden Gärtnerin und lernen Kinematographie oder recherchieren für Dokumentarfilme.

Wie Helga Schütz selbst. Von 1958 bis 1962 studierte sie Dramaturgie an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg und arbeitete dann als freie Drehbuchautorin bei der DEFA. Sie beließ es dabei nicht nur bei Archivrecherche. Für »Martin Luther« (1983), eine Erzählung - eines der wenigen nicht verwirklichten Szenarien -, wanderte sie durch die einschlägige Gegend, denn sie meinte, ein Gefühl für die Fortbewegung in Luthers Zeit zu brauchen.

Schon 1971 wagte sie auch das »Solo«. »Vorgeschichten oder Schöne Gegend Probstein« war zwar kein dickes Buch, aber ein Ereignis in der DDR-Literatur, denn es war sehr anders als das Gewohnte. Nicht laut, eher leise und eindringlich. Ein Kind, natürlich Jette, erlebt bei den schlesischen Großeltern die letzten Monate des Krieges, erlebt Todesnachrichten und Erwachsenengespräche voller Illusionen, Ängste und Gerüchte. Sie darf nicht über alles reden, was sie sieht und hört. Aber sie sieht und hört viel, wenn sie es auch nicht immer versteht. »Gewöhnlicher Faschismus« nannte man die damalige Entdeckung. Wesentlich angeregt von Johannes Bobrowski, beschreibt sie ihr Grunderlebnis: Das Kind erlebt einen Epochenbruch. Das Interesse gilt vor allem den Alten mit ihren Weisheiten und den ganz Jungen in ihrer Unschuld und Naivität. »Schreiben ist, seine eigene Wahrheit zu finden.« Daran hält sie sich in allen weiteren Prosaarbeiten und Romanen. Erinnerungen aufbewahren und sie mit Fantasie, Träumen und Einsichten verbinden, dass ein eigener Kosmos entsteht von miteinander geistig oder familiär Verwandten, die sich suchen und verlieren und wiederfinden wie in ihrer bislang letzten Erzählung »Die Kirschendiebin« (2017). Immer ist es ein Ausbruch aus dem Vorgeschriebenen (»Julia oder Erziehung zum Chorgesang«, 1980), eine Befreiung aus Zwängen. Helga Schütz bleibt über Jahre hinweg ihren Gestalten treu, und so lernt der Leser diese in verschiedenen Konstellationen immer genauer kennen. Auch Dresden und Potsdam sind in ihrem Werk mehr als nur zufällige Hintergründe. Die Elbstadt steht für verwüstete Zivilisation und ihre Überlebenskraft und die preußische Metropole für eine Gartenwelt, die lange durch eine Mauer am Blühen gehindert wurde. So bleibt Helga Schütz immer den Realitäten ihrer/unserer Welt auf der Spur, freilich im Licht der Poesie, für die sie ihre eigene Sprache gefunden hat.

An diesem Montag wird Helga Schütz 80 Jahre alt.

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