nd-aktuell.de / 09.10.2017 / Politik / Seite 2

Der Sündenfall des Völkerrechts

Die Serbische Region Vojvodina will mehr Autonomie, Bosnien-Herzegovina droht zu zerbrechen: Auf dem Balkan kehrt keine Ruhe ein

Elke Windisch, Dubrovnik

In mehreren serbischen Städten wehen dieser Tage katalanische Fahnen neben denen der Region Vojvodinas. Dort sind an vielen Büros der Liga der Sozialdemokraten Graffitis gesprüht, die zur Unterstützung der Katalanen aufrufen. Liga-Chef Nenad Čanak war am Tag der Abstimmung in Barcelona und traf sich mit der Regionalparlamentspräsidentin Carme Forcadell. Beide Seiten hätten dabei Volksentscheide als grundlegendes Instrument der Demokratie bezeichnet, meldet die Nachrichtenagentur FENA. Die Katalanin habe dem Gast vom Westbalkan »Erfolge« gewünscht.

Es geht nicht um Abspaltung der Vojvodina, wo auf einer Fläche knapp so groß wie Hessen mehr als zwei Dutzend Ethnien zusammenleben. Parteien wie die Liga sowie die Zivilgesellschaft wollen lediglich die Wiederherstellung der Autonomie: Die Vojvodina hat wirtschaftlich gesehen für Serbien eine ähnliche Bedeutung wie Katalonien für Spanien. Doch seit 1988 muss die Region den Löwenanteil der eingenommenen Steuern nach Belgrad abführen. Weil die ethnischen Spannungen eskalierten, hatte Slobodan Milošević beiden serbischen Autonomien ihren Sonderstaus entzogen: dem Kosovo, der bitterarmen Albaner-Region, und der reichen Vojvodina.

Es war der Anfang vom Ende des Vielvölkerstaats. Doch Serbiens Nationalisten haben daraus offenbar nichts gelernt. Die spanische Polizei habe auf die katalanischen Separatisten völlig zu Recht eingedroschen, twitterte Vojislav Šešelj, Chef der Serbischen Radikalen Partei.

Weite Teile der serbischen Gesellschaft halten die Wiederaufrichtung der Autonomie in der Vojvodina für den ersten Schritt zur Abspaltung. Die Bevölkerung, aber auch die Macht in Belgrad, sind noch traumatisiert durch den Austritt Montenegros aus dem gemeinsamen Bundesstaat 2006 und vor allem durch die Abspaltung des Kosovo.

Die diplomatische Anerkennung der Albaner-Region 2008 durch Teile der internationalen Gemeinschaft gilt selbst bei kritischen Experten als »Sündenfall des Völkerrechts«. Dort konkurrieren zwei Prinzipien als gleichberechtigt: Das Recht eines Staates auf territoriale Integrität und das Selbstbestimmungsrecht von Nationen. Die Abwägung sei im Fall des Kosovo von politischer Zweckmäßigkeit diktiert gewesen, glaubte Belgrad schon damals. Europa und die USA hätten die Positionen der prowestlichen Albaner stärken wollen, um den eigenen Einfluss auf dem Westbalkan auszuweiten und den Moskaus und der mit Russland befreundeten Serben zurückzudrängen.

Schon Wladimir Putin hatte sich auf das Kosovo als Präzedenzfall berufen und dem Westen »doppelte Standards« vorgeworfen, als dieser 2014 den Beitritt der Krim zu Russland verurteilte. Auch Serbiens Präsident Aleksandar Vučić wirft der EU, die beim Referendum in Katalonien die Zentralregierung in Madrid unterstützt, doppelbödige Moral vor. Brüssels Haltung sei dem serbischen Volk nicht zu vermitteln und dem unter Ägide Europas auf den Weg gebrachten Dialog zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Priština nicht förderlich.

In anderen Staaten der Region vermieden ranghohe Politiker Kommentare zu Katalonien. Aus Furcht, die Spaltprodukte Jugoslawiens könnten sich in noch kleinere Gebietskörperschaften zerlegen. Je härter das Regime, warnen Experten, desto größer die Sezessionsbestrebungen der Minderheiten. Nicht ganz lupenreine Demokratien wie Serbien und vor allem das von der internationalen Gemeinschaft als Gesamtkunstwerk designte Bosnien-Herzegowina gelten daher als Risikopatienten. Zu Recht: Die bosnische Serbenrepublik zieht es zu Serbien, die Kroaten in der Herzegowina zum angrenzenden Mutterland. Auch die Albaner in Mazedonien - bis zu 30 Prozent der Gesamtbevölkerung - hätscheln Träume von einem Großalbanien mit Einschluss ihrer Region und des Kosovo. Entsprechend selbstbewusst treten ihre Parteien - obwohl nur Juniorpartner - in der neuen Regierung in Skopje auf.

Auch in Istrien, von dem 89 Prozent nach dem Zweiten Weltkrieg an die jugoslawische Teilrepublik Kroatien gingen, glauben viele, sie würden besser fahren, wenn ihre Region wieder von Rom aus regiert würde. Weil ein Großteil der dortigen Italiener schon zu Titos Zeiten mit den Füßen abstimmte und die Zurückgebliebenen umfassende Minderheitenrechte genießen, tendiere die Abspaltungsgefahr derzeit jedoch gegen Null, glauben Experten.