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Von Provos und Spontis

Sebastian Kalicha würdigt den gewaltfreien Anarchismus

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.

»Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution« lautete das Credo des holländischen Anarchisten Bart de Ligt. Das mag alle überraschen, die Anarchismus noch immer mit Chaos und Gewalt in Verbindung bringen. Doch damit wird schlichtweg die lange Tradition eines gewaltfreien Anarchismus und Syndikalismus ignoriert, die Einfluss in vielen linken Bewegungen in aller Welt hatte und hat.

Sebastian Kalicha: Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus.
Auf den Spuren einer revolutionären Theorie und Bewegung. Graswurzelrevolution, 278 S., br., 16,90 €

Der Wiener Autor Sebastian Kalicha hat sich seit Jahren mit dieser gewaltfreien Strömung befasst und sie in verschiedenen Veröffentlichungen bekannt gemacht. Jetzt begab er sich erneut auf die Suche nach den historischen Wurzeln und Spuren des anarchistischen Pazifismus. Es ist nur konsequent, dass sein sachkundiges wie streitbares Buch im Verlag Graswurzelrevolution erschienen ist, einem Editionshaus, das zur Infrastruktur der gewaltfreien Bewegung gehört und auch regelmäßig eine Zeitschrift gleichen Namens herausgibt.

Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel geht es um die theoretischen Grundlagen der gewaltfreien Bewegung, im zweiten werden 55 bekannte und unbekannte Aktivisten und Aktivistinnen vorgestellt, und im dritten Teil folgt ein Überblick über Organisationen und Bündnisse, die sich in der Vergangenheit und in der Gegenwart teilweise oder vollständig mit gewaltfreier Theorie und Praxis beschäftigen.

Als zentral für das theoretische Fundament der gewaltfreien Bewegung nennt der Autor die Zweck-Mittel-Relation, nach der mit Gewalt eine Bewegung vielleicht siegen kann, aber selber wieder neue Gewalt reproduziert. Dabei wird allerdings ausgeblendet, dass es historische Situationen geben kann (und auch hinlänglich gab), in denen auch überzeugte Gewaltfreie von diesem Credo abweichen müssen. Erinnert sei an den jüdischen Anarchisten Pierre Ruff, der im Zweiten Weltkrieg den Mut der Kommunisten lobte und hoffte, dass die Rote Armee das NS-System zerschlägt. Ruff erlebte die Befreiung nicht mehr, er starb im KZ Neuengamme.

In oder aus der Not geborene Widersprüche erkannten auch viele andere Gewaltfreie, was sie auch sympathisch macht. Zeigt dies doch zugleich, dass sie keine Doktrinären sind, sondern ihre Überzeugungen an der konkreten Praxis überprüfen und auch mitunter revidieren. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Kalicha den Mut aufgebracht hätte, diesen Widersprüchen in den 55 Kurzporträts von Menschen aus aller Welt Raum zu geben.

Der Autor erinnert an prominente Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi, Leo Tolstoi und Albert Camus, Bertram Russell und Aldous Huxley. Erfreulicherweise sind in dem Buch auch viele Frauen porträtiert, die Teil der gewaltfreien Bewegung waren und - wie in anderen Teilen der Linken - oft im Schatten der vermeintlich bedeutsameren männlichen Mitstreiter standen. Simone Weil gehört noch zu den einigermaßen bekannten Frauen der anarchistischen Bewegung. Doch wer kennt Marie Kugel, Ethel Mannin, Dorothy Mannin, Judi Bari und Utah Philips? Sie waren zu unterschiedlichen Zeiten aktiv und blieben ihren Überzeugungen zeitlebens treu, obwohl sie oft noch stärker von Repression betroffen waren als die Männer.

Erfreulich ist, dass Kalicha der syndikalistischen Strömung große Aufmerksamkeit widmet. Dieser Strang der Arbeiterbewegung zählte den Generalstreik und die direkte Aktion zu seinen Kampfformen. Die Syndikalisten lehnten die Verletzung von Personen ab, nicht aber Sachbeschädigung oder die Besetzung von Fabriken. Nur wenige von ihnen bezeichneten sich explizit als Anarchisten oder Anarchistinnen. Henriette Roland Holst, ebenfalls hier porträtiert, gehörte zur holländischen marxistischen linkskommunistischen Schule, die die Oktoberrevolution begrüßte, aber die folgende Entwicklung der Sowjetunion ablehnte.

Im letzten Kapitel zeigt Kalicha auf, welchen Einfluss gewaltfreie Theorien und Praktiken auf die Antikriegs- und Ökologiebewegung hatten. Die holländische Provobewegung beeinflusste beispielsweise die westdeutschen Spontis. Weniger bekannt ist die holländische Kabouter-Bewegung, die Kalicha als »freundliches Gesicht des Kropotkinismus« einführt. Interessant ist, dass die Kabouter Mitte der 1970er Jahre Wahllisten aufstellten und die Theorie vom parlamentarischen und außerparlamentarischen Standbein in die Diskussion brachten, die einige Jahre später die Grünen in der Bundesrepublik übernahmen. In einem sehr kurzen Kapitel geht Kalicha auch auf die Inspiration der gewaltfreien Anarchisten für die Oppositionsbewegung in der DDR ein. Dabei wird vor allem auf die Dresdner Gruppe »Wolfspelz« hingewiesen. Auch der israelischen Gruppe »Anarchists against the Wall« ist ein kurzes Kapitel gewidmet. Ausführlicher wird die globalisierungskritische Bewegung, darunter Occupy, behandelt. Gewaltfreie Aktionsformen werden hier mit einer marxistischen Staatskritik verbunden, was sehr zu begrüßen ist. Denn der Marxismus braucht die libertäre Staats- und Machtkritik ebenso, wie die Anarchisten von der oft moralisch grundierten Staatsablehnung der Marxisten lernen können.

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