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Ewiger Sonnenuntergang

Hans-Dieter Schütt: »Michael Thalheimer - Porträt eines Regisseurs«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Vieles rauscht nur noch vorbei. Eine Flut von Bildern, der wir wenig entgegenzustellen haben, überrollt uns. Michael Thalheimers Bühnenwelten dagegen haben sich ins Gedächtnis gebrannt, sind Stillstellungen dessen, was uns zu entgleiten droht. Hilft Augenschließen gegen den Terror des bunten Flimmerns, das uns umgibt?

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich Regine Zimmermann in Thalheimers »Emilia Galotti« auf dem Bühnenlaufsteg wie ein Model im hellen Kleid und auf hochhackigen Schuhen zur Rampe schreiten, über ihrem Kopf ein Feuerwerksgewitter. Model? Eher eine Jeanne d’Arc auf dem Weg zur Hinrichtung. Erhobenen Hauptes geht sie zu den von Bert Wrede verfremdeten Klängen aus Wong Kar Wais »In the Mood for Love« - bis es abrupt dunkel wird. Wann war das, 2001 oder gestern? Thalheimers Inszenierungen stoßen in ihrer Archetypik bis dorthin vor, wo der Ursprung Gegenwart wird.

2001 sah ich noch eine andere Inszenierung von Thalheimer, »Leonce und Lena« in Leipzig. Büchners Märchenpersonal beim unablässigen Eskaladierwandklettern über die Bühne, eine wilde Jagd, die mancher nur mit ironischem Lächeln verfolgen wollte. Ein Extremist schon damals, aber die Mittel eher ungestüm: schneller, weiter, höher. Und dann der Quantensprung mit »Emila Galotti« in die Höhenluft der Artistik: die schockgefrorene Energie, der Zusammenprall, auf die Berührung einer Fingerspitze reduziert: Lebt da was?

Hans-Dieter Schütt hat nun einen Text-Bild-Band zu Thalheimer vorgelegt, dem das Kunststück gelingt, jene Atmosphäre erneut zu erzeugen, aus der Thalheimers Theater schöpft. Er stellt an den Anfang ein Zitat von Fernando Pessoa, das zum Leitmotiv wird: »All diese Halbtöne des seelischen Bewußtseins schaffen in uns eine schmerzliche Landschaft, einen ewigen Sonnenuntergang dessen, was wir sind.«

Was verbindet den manischen Schreiber Schütt mit dem manischen Theatermacher Thalheimer? Es ist wohl jene unstillbare Gier, etwas an sich Wirkungsloses zur Wirkung zu bringen, jener Fieberzustand, der permanent über sich hinausgreift. Der unablässige Versuch, das, was im Verborgenen gärt, in eine vorzeigbare Form zu gießen. Pathos, sagt Thalheimer im Gespräch mit Schütt, sei »ein Grenzerlebnis, es ist die Explosion eines Punktes.« Pathos ohne Schmerz wäre hohl, denn der Schmerz ist es, der den Ton erhöht und bricht zugleich.

Wie aber spielt, wie beschreibt man die »Explosion eines Punktes«? Die Antwort kann nur unzureichend sein, der ewig scheiternde Versuch, etwas Vorläufiges auf gültige Weise auszudrücken. Wer jedoch einmal ernsthaft damit beginnt, kann kaum mehr aufhören. Es ist die ständige Suchbewegung nach dem Fremden im Eigenen. Thalheimer: »Arbeiten heißt: einander nicht in Ruhe lassen«.

Über achtzig Inszenierungen gibt es inzwischen von Thalheimer. Zumeist schuf Olaf Altmann die Bühne. Man kennt sich seit den Theater-Anfangstagen aus Chemnitz. Dorthin kam Thalheimer 1991 frisch von der Schauspielschule. Der Eindruck dieses Beginns in einer Stadt, die im Gedächtnis ihre stolze Industrietradition bewahrt hatte: »Chemnitz war düster.« Aber für sieben Jahre der ideale Ort, sich vom Schauspieler zum Regisseur zu wandeln. Schon damals mit Olaf Altmanns Bühnen und den Schauspielern Peter Kurth und Peter Moltzen an seiner Seite. Was ihm, der den Osten bis dahin nicht kannte, sofort auffiel: »Es gab keinen Smalltalk, es gab nicht diese westliche Kultur des freundlich Unverbindlichen. Die saßen an den Tresen und Tischen und schwiegen.« Das prägt, besetzt Erfahrungsräume.

Wurzelt hier die düstere Wucht, die man in Thalheimer-Inszenierungen so oft als Zumutung empfindet, wirft das nächtliche Chemnitz seine Schatten bis an die Charlottenburger Schaubühne oder das Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm, an dem er als Hausregisseur der Nach-Peymann-Ära soeben Brechts »Kaukasischen Kreidekreis« inszenierte? Vermutlich, denn dieses Lehrstück konnte er nur auf einer völlig leeren (und zumeist dunklen) Bühne spielen, dafür räumte er sogar kurz vor der Premiere das eben noch für gut befundene Bühnenbild seines Freundes Altmann wieder ab. Radikal sein heißt, sagt er, sich nicht um Entscheidungen herumzudrücken. Es sind oft unbequeme Entscheidungen, die der Prozess der Proben erfordert.

Das Buch verbindet etwas, das sonst selten zur Einheit gelangt: Bild und Text. Und dabei fällt ins Auge, wie archetypisch dieser Regisseur arbeitet. Nichts ist hier zufällig. Thalheimer löst Kandinskys Anspruch ein, dass das zur Vollendung gebrachte Abstrakte etwas Ursprüngliches sei: Kreis, Linie und Punkt sind Koordinaten der Welteröffnung, die bei diesem Regisseur immer die Dramatik der Apokalypse in sich birgt. Nein, das Heitere ist seine Sache nicht.

Der Ernst von Leben und Tod spiegelt sich in jeder Bewegung des Schicksalsspiels: »Wer spricht von siegen, überstehen ist alles«, heißt es bei Rilke, wohl wissend, dass auch dieses Überstehen einer Fristverlängerung gleicht. Thalheimer, man glaubt es kaum, ist Katholik, aber einer, für den der Heilige immer zugleich der Ketzer ist. Seine Geschichten sind Passionsgeschichten, leidende Menschen werden zu Opfern in den Mühlen von Macht, Lieblosigkeit und Ignoranz. So in »Rose Bernd« oder in Tolstois »Macht der Finsternis«.

Schauspieler erklären den Regisseur. Schütt parliert in seiner Lieblingsdisziplin: dem Gespräch. Constanze Becker, Fritzi Haberland, Katrin Wichmann kommen zu Wort. Über den so früh gestorbenen Schauspieler Sven Lehmann schreibt Thalheimer selbst, aus dem Wissen gemeinsamer Arbeit. Der Regisseur, der sagt, sein »Zugriff auf die Schauspieler« sei inzwischen weniger streng, kann treu sein. Schütt findet die Vokabel »Zugriff« dennoch »verräterisch«. Es ist ein Gespräch zweier im Unbedingten wohnenden Geister, die mitunter hörbar aufeinander prallen. Schütt fragt Thalheimer mehrfach, ob er glücklich sei, Thalheimer kontert: »Glück interessiert Sie? Sie fragen schon wieder danach ... Glück ist ein touristischer Zustand, eine Passage. Tolstoi sagt: Im Glück seien die Menschen gleich, unterscheiden würden sie sich einzig - im Unglück, im Leid.«

Expressive, zumeist ganzseitige Fotos wecken Erinnerungen an das Gesehene und das Gefühl, dennoch so vieles verpasst zu haben. Etwas fehlt natürlich immer. Neben »Emilia Galotti«, »Einsame Menschen«, den beiden Teilen des »Faust«, »Drei Schwestern«, »Die Orestie« (alle am Deutschen Theater Berlin) oder »Tartuffe« und »Der eingebildete Kranke« an der Berliner Schaubühne bleiben fühlbare Lücken. Gleich zwei meiner Lieblingsinszenierungen fehlen: »Die Ratten« und »Die Weber«, beides ebenfalls am Deutschen Theater, das den Verlust der bildstarken Inszenierungen Thalheimers nach seinem Weggang mit Oliver Reese nach Frankfurt am Main nicht kompensieren konnte. Nun sind Reese/Thalheimer wieder in Berlin, ihren Start am neuen Berliner Ensemble kann man furios nennen.

Schütts Buch ist eine Denkschrift für Augenmenschen, gewichtig, aber transparent bis dorthin, wo alle Klarheit von selbst endet: in der Tiefe. Was soll das Theater tun angesichts des »Sogs des Bildes im Kino«?, fragt Schütt Thalheimer. Nichts dagegen, alles dafür, aber doch anders. Sein Credo: »Ich möchte dem Theater das krasse, erschütternde, archaische Bild zurückgeben.«

Hans-Dieter Schütt: Michael Thalheimer - Porträt eines Regisseurs. Verlag Theater der Zeit, 280 S., geb., 28 €. Die Buchpremiere findet am Sonntag um 19 Uhr im Berliner Ensemble statt (Eintritt frei)

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