Was bedeutet Demokratie wirklich?

Herbert Graf untersucht Ursprung, Aufstieg und Niedergang einer guten Idee

  • Ekkehard Lieberam
  • Lesedauer: 4 Min.

Um »das Werden und den Wandel« des zeitgenössischen Demokratiekonzepts und um praktische Versuche, demokratische Regeln des Gemeinwesens zu stärken und weiterzuentwickeln, geht es Herbert Graf in seinem neuen Buch. Eine hochaktuelle Publikation angesichts jüngster Angriffe auf die Demokratie. Seinen Diskurs beginnt er mit dem griechischen Staatsmann und Lyriker Solon (640 - 560 v. u. Z.). Er spannt den Bogen von den Revolutionen der Neuzeit und Moderne sowie die ökonomischen und politischen Reformen der 1960er Jahre bis in die Gegenwart. Dabei erweist sich der Autor, der über zwanzig Jahre lang Mitarbeiter von Walter Ulbricht und später Professor für Staatsrecht junger Nationalstaaten der sogenannten Dritten Welt war, als ein in historischen und politischen Prozessen sachkundiger Autor.

Graf sieht in der attischen Demokratie und deren Regeln und Methoden den »Versuch einer Lösung unüberbrückbarer sozialer Konflikte«, einen Klassenkompromiss zwischen der »Herrschaft einer heterogenen Minderheit« und der breiten Mehrheit des Volkes. Demokratie sei danach lange Zeit »weder Vokabel der gesellschaftlichen Eliten noch der Völker« gewesen. Erst mit den politischen Umbrüchen im Gefolge der Krise der Feudalgesellschaft und der »Epochenzäsur« der Industriellen Revolution habe sich das geändert. Es wurden Verfassungen im Zeichen der Volkssouveränität kodifiziert und somit der Weg zur parlamentarischen Demokratie geebnet. Dieser sei lang und oft holprig gewesen, begleitet von Einschränkungen und schmutzigen Tricks.

So sei es, wie neuere Forschungen ergaben, dem SPD-Politiker Otto Wels mittels eines geschickten Coups gelungen, dem Rat der Volksbeauftragten unter Friedrich Ebert einen Tag nach dessen Inthronisierung am 9. November 1918 die Zustimmung des Berliner Arbeiter- und Soldatenrates zu verschaffen und somit die Geburt der Weimarer Republik einzuleiten.

Der Autor wendet sich aktuellen Problemen der direkten und der parlamentarischen Demokratie zu, der Stellung der Parteien und der ökonomischen Interessenverbände im Bundestag sowie im Europaparlament. Er analysiert geringer werdende Freiräume und sich verengende Gestaltungsmöglichkeiten und regt den Leser an, über neue Ansätze nachzudenken, die dem Anspruch der Demokratie im wörtlichen Sinne, also der Volksherrschaft, gerecht werden. Seine theoretischen Positionen entwickelt er in Auseinandersetzung mit den Historikern August Heinrich Winkler und Paul Nolte sowie dem Staatsrechtler Gerhard Leibholz.

Unter den Bedingungen neoliberaler Kapitaloffensive, eines Heeres von Lobbyisten und dem immensen Einfluss der bürgerlichen Medien ist die »Allmacht der Wirtschaft« größer denn je, konstatiert Graf. Dazu gesellen sich Staatsschulden und Schuldenbegleichung als »Fesseln demokratischen Handelns«, sanktioniert durch den Begriff der »marktkonformen Demokratie«. Unübersehbar seien der »Vorrang« der Interessen von Allianzen wie der NATO vor jenen der nationalen Parlamente und eine neue Qualität vielgestaltiger Einschränkungen »staatlicher Souveränität« durch supranationale Organisationen wie EZB und EU.

84 Prozent der in den 1990er Jahren für die Bundesrepublik als verbindlich erklärten Rechtsakte stammten aus Brüssel, nur 16 Prozent waren »hausgemacht«. Graf stimmt Colin Crouch zu, wenn dieser von einer »Postdemokratie« und einer Entleerung der demokratischen Institutionen spricht. Der Autor merkt zudem an, dass Demokratie weniger »Hoffnung, eher Illusion der Arbeiterklasse« sei, ohne jedoch auf die Entwicklung des Klassenkampfes von unten und den Ausbau von Gegenmacht als Weg zur Revitalisierung demokratischer Institutionen näher einzugehen. Graf belegt, dass Demokratie zu einem »polemischen Gegenbegriff zum Sozialismus« geworden ist und von der bürgerlichen Propaganda ungehindert instrumentalisiert wird, trotz ihrer Agonie.

Die Vielschichtigkeit der Demokratie hat zweifelsohne etwas Verwirrendes. Demokratie ist ein umkämpfter Begriff, ist Kampfparole der Herrschenden wie auch Losung und Orientierung der Gegenkräfte. In den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart dominieren zweifelsohne der Etikettenschwindel und der Missbrauch des Begriffs Demokratie zur Denunziation demokratischer Bewegungen im Namen einer »abwehrbereiten Demokratie«. Die sind nichts anderes als Dekor für imperialistische Herrschaftspläne beziehungsweise Losung für alle möglichen »bunten Revolutionen«, die alles andere als Revolutionen sind.

In einer Welt, in der, wie der Autor deutlich macht, das Kapital die parlamentarischen Institutionen regelrecht in Besitz genommen hat und kein demokratisches Recht mehr davor gefeit ist, in sein Gegenteil verkehrt zu werden, wäre es vor allem für Linke nützlich, an die marxistische Demokratietheorie und die Debatte anzuknüpfen, die der Rechtswissenschaftler Uwe-Jens Heuer Anfang der 1980 Jahre in Gang gebracht hat. Noch vor der sogenannten Wende erschien im DDR-Staatsverlag sein Buch »Marxismus und Demokratie«. Die Kennzeichnung von Demokratie als »Volksherrschaft« oder als »Mitentscheidung über Angelegenheiten des Gemeinwesens«, wie sie Graf hier vorlegt, gehen in diese Richtung. Die Position von Heuer war jedoch grundsätzlicher und komplexer. Laut dem 2011 verstorbenen Juristen und ehemaligen PDS-Abgeordneten im Deutschen Bundestag ist Demokratie individuelle und kollektive Selbstbestimmung über die eigenen Angelegenheiten im Rahmen einer gegebenen Gesellschaftsordnung.

Damit ist ein Maßstab gesetzt, der es gestattet, in der Demokratiedebatte gegen das übliche Jonglieren mit dem Begriff der Demokratie aufzubegehren, Kontra zu geben und ein tragfähiges Konzept sozialistischer Demokratie zu entwickeln - jenseits der allzu mageren Schablone »Kein Sozialismus ohne Demokratie«.

Herbert Graf: Von der Demokratie zur Agonie. Ursprung, Aufstieg und Niedergang einer guten Idee. Edition Ost, 327 S., geb., 16,99 €.

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