Nachrichten aus Dystopia

Margaret Atwood erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Von Holger Teschke

  • Holger Teschke
  • Lesedauer: 7 Min.

In diesem Klima der Spaltung, in dem sich der Hass auf viele Gruppen der Gesellschaft im Anstieg zu befinden scheint und die Wut auf demokratische Institutionen von Extremisten jedweden Schlages artikuliert wird, bin ich mir sicher, dass jemand irgendwo - sogar viele an vielen Orten, schätze ich - aufschreiben, was geschieht, während sie es selber erfahren. Oder sie erinnern sich und berichten später davon, wenn sie können.«

Dieser Hoffnung gab Margaret Atwood im Vorwort der Neuausgabe ihres Romans »Der Report der Magd« im Februar dieses Jahres Ausdruck. Ihr berühmtestes Buch, das sie 1984 in West-Berlin nach Reisen durch die DDR und die ČSSR begann, kehrte nach der Wahl von Donald Trump auf die Bestsellerlisten der englischsprachigen Literatur zurück. Auf einem Foto, das Proteste bei Trumps Amtseinführung zeigt, war ein Plakat zu sehen, auf dem eine Demonstrantin forderte: »Make Margaret Atwood Fiction Again!«

Vielleicht hat das auch einer der Stiftungsräte vom Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gesehen, sich an das Werk der berühmtesten kanadischen Autorin erinnert, die im November ihren 78. Geburtstag feiert, und dabei bemerkt, dass sie noch so produktiv und streitbar ist wie beim Erscheinen des »Reports der Magd« vor 32 Jahren. An diesem Sonntag jedenfalls wird der Preis in der Paulskirche in Frankfurt am Main an Atwood verliehen.

Nach Bekanntgabe der Entscheidung des Börsenvereins im Juni dieses Jahres gab es in den Feuilletons auch Kritik: Atwood sei die Falsche, man hätte besser eine Repräsentantin der schwarzen US-amerikanischen oder der lateinamerikanischen Literatur wählen sollen. Wer heute zeigen will, dass er oder sie politisch korrekt fühlt, muss selbst an alten weißen Damen Anstoß nehmen. Der Stiftungsrat scheint das geahnt zu haben. In der Begründung seiner Wahl weist er darauf hin, dass Margaret Atwoods Werk zeigt, »wie leicht vermeintliche Normalität ins Unmenschliche kippen kann«. Es musste nicht erst Donald Trump kommen, um Atwood zu dieser Erkenntnis zu verhelfen. Sie schreibt darüber seit der Präsidentschaft von Richard Nixon und hat sich auch in späteren Zeiten, als das deutsche Feuilleton sich vor Begeisterung über Bill Clinton und Barack Obama kaum halten konnte, ihren kritischen Blick bewahrt. Es gibt wohl keine andere lebende Autorin des nord- oder südamerikanischen Kontinents, die mit gleicher sprachlicher Virtuosität und politischem Scharfsinn auf die Gefährdung der stabil geglaubten demokratischen Verhältnisse und des inneren Friedens dieser Welt hingewiesen hat.

Ihr »Report der Magd« steht in der großen angelsächsischen Tradition der Dystopien - von H.G. Wells’ »Zeitmaschine« über Aldous Huxleys »Schöne Neue Welt« bis zu George Orwells »1984«. Was Atwood von ihren männlichen Kollegen unterscheidet, ist ihr funkelnder Humor und der kühle Blick, mit dem sie - und ihre Protagonistin - die »Neue Ordnung« Amerikas betrachten. Der blutige Sturz der Demokratie und die Errichtung einer pseudoreligiösen Diktatur in der »Republik von Gilead« nimmt beiden nicht den Mut zum Spott über die Machthaber und ihre salbungsvollen Phrasen, hinter denen Gewalt und Willkür herrschen.

Dieser Roman hat Zeitenwechsel und literarische Moden überstanden und liest sich wie eine Nachricht aus einem Dystopia, das Realität zu werden droht. Die Neuverfilmung des »Reports der Magd« mit Elisabeth Moss in der Hauptrolle, die im April dieses Jahres in zehn Episoden auf dem US-amerikanischen Videoportal Hulu ausgestrahlt wurde, ist mit acht Emmy Awards ausgezeichnet und zur besten TV-Serie des Jahres gewählt worden. Seit dem 4. Oktober ist sie bei Telekom Entertain TV in Deutschland zu sehen und dürfte dem Roman auch hierzulande zu einer neuen Lesergeneration verhelfen.

Margaret Atwood, 1939 in Ottawa geboren, ist die Tochter eines kanadischen Entomologen, der mit seiner Familie im wilden Norden von Quebec auf Insektenjagd durch die Wälder zog. Zur Lieblingslektüre ihrer Kindheit gehörten die Märchen der Brüder Grimm und viktorianische Schauergeschichten.

Von ihren Eltern unterrichtet, begann sie schon mit sechs Jahren, Gedichte und Theaterstücke zu schreiben. Mit sechzehn wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden würde. Sie studierte von 1957 bis 1961 an der University of Toronto Englische Sprache und Literatur, Philosophie und Französisch. 1961 ging sie nach Harvard, wo sie ihre Doktorarbeit über »Englische metaphysische Romane« zu schreiben begann. Statt diese Arbeit zu beenden, unterrichtete sie ab 1965 an der University of British Columbia, um ihr Schreiben zu finanzieren.

1969 erschien ihr erster Roman »Die essbare Frau«, den das »Time-Magazin« als »Parfümflakon« feierte, »der in einen Molotowcocktail umgebaut worden ist«. Es folgten Lyrikbände, Essays, Kinderbücher und immer wieder Romane. Bis heute hat Margaret Atwood über sechzig Bücher veröffentlicht, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden. Sie hat Drehbücher und Libretti verfasst und nebenbei auch noch einen digitalen LongPen erfunden, mit dessen Hilfe sie ihre Bücher in aller Welt von einem Tablet aus signieren kann. Dieser Zauberstift wird jedoch häufiger von Finanz- und Steuerberatern genutzt als von Autoren, die keine Lust auf Buchtouren haben. Zur Preisverleihung nach Frankfurt kommt Atwood aber höchstpersönlich.

Die Schriftstellerin ist schon früh mit religiösem und politischem Fanatismus in Berührung gekommen. Ihre Großmutter erzählte oft von ihrer Ahnfrau Mary Webster, die zu Zeiten der Hexenverfolgung in Neuengland angeklagt und gehängt wurde, die Prozedur aber überlebte und danach noch vierzehn Jahre in Massachusetts lebte. Ihr hat Atwood den »Report der Magd« gewidmet und ein frühes Gedicht über »Half-Hanged Mary«, in dem sie ihre Heldin am Galgen sagen lässt: »Die Worte schäumen aus mir heraus / Knäuel für Knäuel in verwickelten Möglichkeiten / Das Weltall entwirrt sich aus meinem Mund / in all seiner Fülle, in aller Leere.«

Vielleicht hat sie sich auch deswegen während ihres Studiums intensiv mit der Geschichte des Puritanismus und seiner Folgen für »Gottes eigenes Land« beschäftigt. Die Überzeugung, letzte Wahrheiten erkannt zu haben und auserwählt zu sein, den Rest der Welt damit zu beglücken, ist ihr immer suspekt gewesen - auf allen Seiten des politischen Spektrums.

Vielleicht hat diese Skepsis auch dazu geführt, dass Margaret Atwood sich nie für eine politische Richtung hat vereinnahmen lassen. In ihren Interviews und Gesprächen, die man im Internet nachlesen und anhören kann, fragt sie immer wieder nach, was genau mit »Freiheit« oder »Feminismus« gemeint ist. Rechte für Frauen und für Minderheiten sind für sie in erster Linie Menschenrechte, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Religion.

Zu diesen Menschenrechten gehören für Atwood vor allem das Recht auf ein Leben in Frieden und auf freie Meinungsäußerung, auch, weil ihre Kindheit und Jugend von den Folgen des Zweiten Weltkriegs, der Hexenjagd unter Senator McCarthy und dem Vietnamkrieg geprägt war. Während sie 1984 am »Report der Magd« schrieb, versuchten die Republikaner in den USA, Abtreibungskliniken zu schließen und Schulen, an denen Darwins Evolutionstheorie gelehrt wurde, die finanziellen Mittel zu kürzen. Noch vor zehn Jahren sollte der Roman in Texas wegen »antireligiöser und exzessiv sexueller Sprache« von den Leselisten der dortigen Highschools gestrichen werden. Auch aus solcher Erfahrung heraus engagiert sich Atwood gemeinsam mit Salman Rushdie in der weltweiten Kampagne des PEN für verfolgte und zensierte Autorinnen und Autoren. Mit ihrem Mann Graeme Gibson unterstützt sie darüber hinaus junge kanadische Schriftsteller und Umweltschutzorganisationen.

Denn bei aller Dystopie: Margaret Atwood ist eine Optimistin. Ihr Vorwort im »Report der Magd« endet mit den Worten: »Werden diese Berichte unterdrückt und versteckt werden? Werden sie erst Jahrhunderte später wiedergefunden, hinter der Mauer eines alten Hauses? Lasst uns hoffen, dass es nicht dazu kommt. Ich vertraue darauf, dass es nicht geschehen wird.« Deshalb beteiligt sie sich auch am »Future Library Project«, für das seit 2014 hundert Autorinnen und Autoren über einen Zeitraum von hundert Jahren ein Buch verfassen, das erst 2114 veröffentlicht werden soll. Atwoods Roman trägt den schönen Titel »Scribbler Moon«. Schade, dass wir ihn nicht mehr lesen werden. Schön, dass es ihre anderen Bücher gibt und sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt werden.

Neuerscheinungen von Margaret Atwood: Das Herz kommt zuletzt. Roman. Übers. v. Monika Baark. Berlin Verlag, 400 S., geb., 22 €. Die steinerne Matratze. Erzählungen. Übers. v. Monika Baark. Berlin Verlag, 304 S., geb., 22 €. Hexensaat. Roman. Übers. v. Brigitte Heinrich. Knaus Verlag, 320 S., geb., 19,99 €. Mehr über die Autorin und ihr Werk unter: www.margaretatwood.ca

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