Dagdelen: Steudtner eine »Geisel« der Türkei

Menschenrechtler wirft türkischen Behörden schwere rechtsstaatliche Verstöße bei Vernehmungen vor

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Berlin/Istanbul. In Istanbul hat am Mittwoch der Prozess gegen den Deutschen Peter Steudtner begonnen. Vor Gericht wies der Menschenrechtler die Vorwürfe der Anklage zurück. Die Behauptung, er unterstütze terroristische Organisationen, sei haltlos und ohne Grundlage, sagte Steudtner nach Angaben des Prozessbeobachters und Grünen-Politikers Özcan Mutlu, der per Twitter aus der Verhandlung berichtete. Die Terrororganisationen, die er laut Anklage unterstütze, kenne er nur aus den Nachrichten, erklärte Steudtner demnach. Er forderte seine sofortige und bedingungslose Freilassung.

Neben Steudtner sind zehn weitere Aktivisten angeklagt. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft. Die Menschenrechtler waren im Juli bei einer Razzia auf einer der Prinzeninseln bei Istanbul festgenommen worden.

Bei seiner Befragung kritisierte Steudtner Prozessbeobachtern zufolge die türkischen Behörden: Bei seiner Verhaftung und bei den Vernehmungen habe es schwere rechtsstaatliche Verstöße gegeben. Sein Leben lang habe er sich gegen Terror und Gewalt engagiert, betonte der Deutsche, der seit rund 100 Tagen in Untersuchungshaft sitzt.

Die Bundesregierung erklärte, sie hoffe auf ein rechtsstaatliches Verfahren. »Die Türkei verweist stets auf die Unabhängigkeit ihrer Justiz. Das respektieren wir«, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin. Als Mitglied des Europarates sei die Türkei menschenrechtlichen Standards unterworfen. Für das Auswärtige Amt verfolgt der deutsche Generalkonsul in der Türkei, Georg Birgelen, den Prozess.

Vorgeworfen wird den Menschenrechtsaktivisten unter anderem der Kontakt zu Organisationen wie der islamistischen Gülen-Bewegung, der kurdischen Arbeiterpartei PKK und der kommunistischen DHKP/C. Die Anklage stützt sich auf zum Teil anonyme Zeugenaussagen.

Zu den Angeklagten zählen auch der Vorstandssprecher der türkischen Sektion von Amnesty International, Taner Kilic, und die Amnesty-Direktorin Idil Eser. Der Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion, Markus Beeko, bezeichnete die Vorwürfe der türkischen Staatsanwaltschaft als »falsch und diffamierend«. In den Anklageschriften werde eine reguläre Fortbildung für Menschenrechtler in ein konspiratives Geheimtreffen umgedeutet, friedliche Menschenrechtsarbeit werde als Unterstützung terroristischer Organisationen bezeichnet, sagte Beeko, der den Prozess vor Ort verfolgt. Aktivisten von Amnesty International demonstrierten am Mittwochmorgen vor der türkischen Botschaft in Berlin für die Freilassung der Inhaftierten, auch in der evangelischen Kirchengemeinde in Prenzlauer Berg in Berlin, in der sich Steudtner engagiert hatte, setzt man sich für seine Freilassung ein.

Die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Sevim Dagdelen, wirft der Türkei vor, Steudtner als »Geisel« zu halten. Die Bundesregierung müsse ihre Politik gegenüber der Türkei ändern: »Die bisherige Politik der Bundesregierung hat weder die Freilassung der Geiseln gebracht noch die Sicherheit der eigenen Bürger vor Willkür durch die türkische Regierung«, erklärte Dagdelen am Mittwoch. Ein Sonderbeauftragter könne hilfreich sein.

Auch Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) äußerte erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verfahrens gegen die Menschenrechtler. »Allein die Tatsache, dass das Gericht eine Anklage mit den völlig aus der Luft gegriffenen Vorwürfen zugelassen hat, macht den politischen Charakter des Verfahrens deutlich«, sagte Roth dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Ähnlich äußerte sich die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler (SPD). »Ich kann die Vorwürfe der türkischen Staatsanwaltschaft nicht nachvollziehen«, sagte Kofler dem epd. Sie appellierte an die Justiz, ihren Aufgaben unabhängig und im Sinne der Gewaltentrennung gerecht zu werden. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 geht die türkische Regierung mit massiven Repressionen gegen Kritiker vor.

Die Inhaftierung Steudtners hatte in Deutschland eine Protest- und Solidarisierungswelle ausgelöst, ähnlich wie im Fall der ebenfalls in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu. epd/nd

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