nd-aktuell.de / 02.11.2017 / Politik / Seite 13

95 Thesen wider Hessens Schulpolitik

Landesschülervertretung fordert Kursänderung

Hans-Gerd Öfinger, Wiesbaden

Während der Reformationstag 2017 auch in Hessen einmalig ein gesetzlicher Feiertag war und die Schulen und meisten Betriebe geschlossen blieben, nutzten Aktivisten der Landesschülervertretung (LSV) den Tag für eine kreative Aktion. Sie versammelten sich um 15.17 Uhr vor dem CDU-geführten Kultusministerium in der Landeshauptstadt Wiesbaden und nagelten dort symbolisch 95 Thesen mit Forderungen zur Änderung der Zustände im hessischen Schulwesen an eine schwere Holztür.

Die Anspielung auf Martin Luthers mutmaßliche Veröffentlichung kritischer Thesen zum Zustand von Kirche und Gesellschaft war als Aufschrei gedacht - und dürfte mit Blick auf die Landtagswahl 2018 in Hessen Auftakt für weitere Aktivitäten für einen Kurswechsel in der Bildungspolitik sein. »Bildung muss um einiges besser werden. Seit Jahrhunderten hat sich hier nicht sehr viel getan«, so ein LSV-Aktivist. »Wir zeigen, dass sich junge Menschen darüber Gedanken machen, wie Schule funktionieren soll. Wir werden laut, wenn uns etwas stört.«

Die 95 Thesen greifen zahlreiche Nöte im hessischen Schulalltag auf. »Lehrmittelfreiheit muss Schule wirklich kostenlos machen - vom Kindergarten bis zum Hochschul- oder Berufsabschluss«, heißt es etwa in These 11. »Nur Selbstbestimmung in der Schule führt zu Mündigkeit im Berufsleben«, so These 17. Bisher fördere die Schule eher Anpassung, nicht Individualisierung, so die Kritik. Das Forderungspaket umfasst Punkte wie gesunde Ernährung, die Ablehnung von Rassismus, stärkere ökologische Ausrichtung in Schulalltag und Unterricht. Und es beinhaltet grundsätzliche Kritik am dreigliedrigen Schulsystem.

Die Wahl zwischen Gymnasium und Hauptschule, so heißt es in den Thesen, werde »leider zu oft durch den Geldbeutel der Eltern festgelegt«. Und: »Bildung darf nicht an Lehrkräftemangel scheitern.« Weil überlastete Lehrkräfte nur frustrierte Schüler zur Folge hätten, fordern die Schülervertreter für sie eine bessere Ausbildung: »Digitale Kompetenzen sind im 21. Jahrhundert ein Muss - auch für Lehrkräfte.«. Zeugnisse seien »unkonstruktiv, nicht objektiv und demotivierend«, Schulen dürften »kein Wirtschaftsmarkt« werden.

Im Sinne einer Demokratisierung zielt These 94 auf eine paritätische Besetzung der Schulkonferenz als höchstes innerschulisches Gremium mit Vertretern von Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft ab. Bislang stellen laut Schulgesetz die Lehrkräfte die Hälfte und Vertreter von Eltern und Schüler je ein Viertel der Konferenzmitglieder. Dabei hat die Schulleitung zusätzlich den Vorsitz inne und damit unter Umständen bei Pattsituationen die ausschlaggebende Stimme.

Kritiker sehen darin die Gefahr, dass Schulleiter, die oftmals aufgrund von Parteibuch und politischer Nähe zur Landesregierung ernannt wurden, sanften Druck auf ihnen unterstellte Lehrkräfte ausüben könnten, um genehme Abstimmungsresultate zu erreichen. Eine Wahl der Schulleiter durch eine paritätisch besetzte Schulkonferenz forderte Landesschulsprecher Fabian Pflume am Mittwoch gegenüber »nd«.

Das Thema Bildungspolitik war in Hessen schon oft wahlentscheidend. Nun setzt die Landessschülervertretung auf Gespräche mit Elternvertretungen, Gewerkschaften, Landtagsparteien und Ministerium. Bei etlichen Forderungen gibt es Gemeinsamkeiten mit Oppositionsparteien, der DGB-Bildungsgewerkschaft GEW und Elternvertretern. Erst vor wenigen Tagen hatten SPD und Linksfraktion den massiven Ausfall von Sportunterricht bemängelt.