Weltparlament mit Bauern?

100 Jahre nach der russischen Oktoberrevolution will der Theatermacher Milo Rau mit »General Assembly« in der Schaubühne das alte Rätemodell neu ausprobieren

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.

Milo Rau, Sie haben gerade in der Berliner Schaubühne mit Ihrem Stück »Lenin« den alten russischen Revolutionsführer beim Sterben begleitet. Jetzt rufen Sie dort die »General Assembly« aus, eine Art Weltparlament. Was ist das Anliegen?
Wir wollen untersuchen, wie eine zukünftige weltpolitische Struktur aussehen soll. Es geht darum, wie man wichtige politische, ökonomische, ökologische und soziale Fragen in die Gremien bringt, die darüber entscheiden; kurz gesagt, geht es darum, Entscheidungen, die irgendwo weit weg getroffen werden, zurück auf die nationalen, regionalen und kommunalen Parlamentsebenen zu bringen. Um ein Beispiel zu geben: Wenn ein Bergbauer in Südafrika von Entscheidungen betroffen ist, die hier in Europa getroffen werden, dann muss es eine Struktur geben, die es ihm ermöglicht, die Gesetze, die hier erlassen werden, auch zu beeinflussen.

Wie kann ein solcher Einfluss praktisch aussehen?
Zum Beispiel könnten Bauern aus Südafrika erreichen, dass ein Firmenmanager aus Europa oder Amerika, der Schaden anrichtet, entlassen wird.

Zur Person

Der »Dokumentartheatermacher« Milo Rau, der bereits über einige Erfahrung im Nachstellen und Neu-Arrangieren von Prozessen verfügt - u.a. »Kongo Tribunal« und »Moskauer Prozesse« - will 100 Jahre nach der Oktoberrevolution das alte Rätemodell auf globaler Ebene neu ausprobieren. In »General Assembly« beraten vom 3. bis 5. November in der Berliner Schaubühne Experten aus aller Welt zu ökonomischen, sozialen, politischen und technologischen Fragen und versuchen gemeinsam mit dem Publikum, das Setting für den Welt-Sowjet zu entwickeln. Mit Milo Rau sprach Tom Mustroph. Foto: sss

Ein großer Anspruch. Wie sollte dieses Weltparlament strukturiert sein?
Eine ganz einfache Frage ist zunächst, welche Abgeordneten in dem Parlament sitzen und bei welchen Themen sie kompetent sind. Dann muss man klären, welche Zuständigkeiten ein Weltparlament hat. Es gibt ja die Tendenz, dass momentan ökonomische und politische Fragen lokalisiert werden. Bangladesch soll doch etwa mit seiner Überschwemmung bitte allein fertig werden, auch wenn die europäische Industrie das mitproduziert hat. Die kulturellen Fragen aber - im Sinne von: Alle Staaten sollen säkulär sein, die Frauen sollen überall frei und gleichberechtigt sein - diese Fragen werden universalisiert. Das ist ein Widerspruch. Und wir wollen ein Parlament schaffen, in dem diese Unlogik umgedreht wird, wo man ökologische und ökonomische Fragen universalisiert in dem Sinne, dass etwas, was in Südafrika oder Lateinamerika passiert, seine politische und ökonomische Ursache auch hier haben kann.

Es wird dann also um Zusammenhänge gehen wie etwa die deutsche Rüstungsindustrie, die an den medial verurteilten Kriegen in Syrien und Irak mitverdient, Arbeitsplätze schafft und auch auch noch ihren Beitrag zum System der Rentenkassen liefert?
Genau. Aber bei mir ist das immer antagonistisch. Da kann dann auch ein kurdischer Aktivist kommen, der sagt: »Danke, Heckler & Koch.« Ich habe Leute im Nordirak kennengelernt, die genau das sagen.

Welche Abgeordneten haben Sie für die »General Assembly« eingeladen?
Wir haben fünf Themenkomplexe, die wir in fünf Sitzungen bearbeiten. In der ersten Plenarsitzung geht es um diplomatische Beziehungen, Sanktionen und Kriege, in der zweiten um Regulierungen der globalen Weltwirtschaft, in der dritten um Migration und Grenzregime, in der vierten um Cultural Global Commons und in der fünften um Natural Global Commons.

Die beiden letztgenannten Themenkomplexe beschäftigen sich mit dem sehr weit gefassten Begriff der öffentlichen Güter. Wie wollen Sie da eine allzu große Theorielastigkeit der Veranstaltung vermeiden?
Wir haben zu allen Themen Spezialisten eingeladen, so Demokratieaktivisten aus Libyen und der Türkei, Gewerkschaftsaktivisten aus Brasilien, Indonesien und Bangladesch, Rohstoffexperten aus dem Kongo, einen Roma-Aktivisten, einen Organisator der Athener Proteste, einen Cyborg-Aktivisten, Experten gegen Überwachungstechniken, einen Ex-Minister für Landwirtschaftsreform aus Namibia, einen deutschen Klimaexperten ...

Jede Menge Kompetenz also. Besteht da nicht die Gefahr, dass man sich in den oft komplexen Details verliert?
Es geht im Weltparlament ja auch darum, was man dort alles besprechen muss und was die anderen Parlamente angeht. Man muss die Fragen stellen, die alle angehen. Und dabei muss die jeweilige nationale Politik einer Weltpolitik untergeordnet werden.

Wie verhält sich dieses Weltparlament zu Ihrem anderen aktuellen Stück »Lenin«? Wie Sowjet-inspiriert ist dieses Projekt?
Es handelt sich um Parallelprojekte. Sie sind gemeinsam entstanden und beeinflussen sich natürlich. Wobei man sagen muss, dass die frühen Sowjets, an denen wir uns orientieren, ja schnell von Lenin zerschlagen wurden, um die Bolschewiki an die Macht zu bringen. Und die ersten Sowjets waren auch recht einseitig besetzt. Es waren vor allem Soldaten vertreten. Die Bauern wussten ja gar nicht, dass es diese Sowjets in St. Petersburg gab.

Wobei viele Soldaten ja ursprünglich Bauern waren und so die Bauern dann in gewissem Sinne dann doch wieder mit in den Sowjets saßen, oder?
Ja, genau. Aber die haben dann vor allem über solche Sachen gesprochen, ob man sich im Schützengraben duzen sollte. (lacht) In diesem Sinne war es ähnlich wie 1968 in Westeuropa.

Darüber wollen Sie aber hinausgehen?
Sicher. Wobei die Frage, wie man politische Beteiligung organisiert, ja auch schon von Lenin und Trotzki gestellt wurde. Die vertrauten aber noch darauf, dass es in einer neuen Gesellschaft auch einen neuen Menschen geben werde. Und bei dem, so ihre Hoffnung, wären dann die finsteren Triebe, wie sie etwa Freud untersucht hatte - der von Lenin und Trotzki auch interessiert gelesen wurde -, komplett überwunden. Wir wissen inzwischen, dass das nicht passiert ist. Vielleicht liegt das am Kapitalismus und der Art und Weise, wie darin das Zusammenleben organisiert ist. Die Aufgabe ist deshalb auch, herauszufinden, wie man all diese negativen Energien eindämmen kann. Denn schließlich sind wir als Schicksalsgemeinschaft davon betroffen, wenn Fehler gemacht werden und wenn eine positive utopische Struktur nicht zum Tragen kommt. Es geht also auch darum, wie man eine Gesellschaft baut, in der zum Beispiel Geige spielen wichtiger ist, als viel Geld an der Wall Street zu machen, ohne darüber nachzudenken, wer dabei alles geschädigt wird.

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