nd-aktuell.de / 03.11.2017 / Kultur / Seite 16

Den Anfang wagten die Frauen

Stephen A. Smith hat eine beeindruckende Kulturgeschichte der russischen Revolution verfasst

Karlen Vesper

Die Revolution war eine große Sache!«, fuhr Monsieur Pierre fort und verriet durch diese kühne und herausfordernde Behauptung sein äußerst jugendliches Alter. »Wie? Revolution und Königsmord sind eine große Sache?« - »Ich rede nicht von Königsmord, ich rede von Ideen.«

Mit diesem Dialog in »Krieg und Frieden« verdeutlichte Lew Tolstoi, wie stark umkämpft die historische Deutung der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert war, bemerkt Stephen A. Smith einleitend. Gleiches gilt für die russische Revolution von 1917, insbesondere den Oktoberumsturz. Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Smith wie Tolstois Pierre ergeht hinsichtlich des über ein Saeculum nach dem Sturm auf die Bastille in Paris erfolgenden Sturms auf das Winterpalais in Petrograd.

Der Geschichtsprofessor an der University of Oxford wendet sich explizit nicht an ein akademisches Pu-blikum, würde sich aber freuen, wenn sein Buch auch bei Kollegen auf Interesse stößt, da es neuere Forschungen russischer und westlicher Gelehrter enthält und darüber hinaus - dankenswerterweise - einige tradierte Interpretationen hinterfragt. Überraschend allein schon der ausgedehnte Zeitrahmen, den Smith für seine Darstellung wählte: von den Reformversuchen Alexander II. in den 1880er Jahren bis 1928/29, als Stalin seine »Revolution von oben« (brachiale Kollektivierung und Industrialisierung) dem Land oktroyierte.

Der geweitete Blick macht Sinn. Denn um zu verstehen, was in Russland vor 100 Jahren geschah, und, wie der Autor schreibt, »um aus der Vergangenheit zu lernen«, ist zu fragen, warum die russische Autokratie so verhasst war und relativ sang- und klanglos unterging. Smith eruiert ebenso, weshalb der Versuch scheiterte, nach der Februarrevolution eine parlamentarische Demokratie zu errichten, und wie es einer kleinen, radikalen Partei gelingen konnte, an die Macht zu kommen und sich in einem grausamen Bürgerkrieg zu behaupten. Und schließlich brennt weiterhin die Frage, wie es zu Stalins Tyrannei kommen konnte. Der Brite skizziert die Ereignisse, stellt die Akteure vor, analysiert die Wandlungen in den sozialen Schichten, verfolgt Prozesse und Entwicklungslinien und diskutiert Alternativen. Er beleuchtet objektive und subjektive Gegebenheiten, äußere und innere Zwänge und konstatiert: »Nicht die Revolutionäre schaffen die Revolution, bestenfalls sind sie daran beteiligt, die Legitimität des bestehenden Regimes zu untergraben, indem sie die Vorstellung lancieren, eine bessere Welt sei möglich.«

Lenin wusste, dass Revolutionäre erst dann aus der politischen Isolierung ausbrechen und den Versuch unternehmen können, breitere Massen für die Zerstörung der alten Ordnung zu mobilisieren, wenn die bestehende in einer tiefen Krise steckt, am Ende ist. Smith weiß, dass Revolutionen nicht nur einen neuen Staat anvisieren, sondern auch die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse von Grund auf umkrempeln wollen. Die Massen in Stadt und Land entreißen die Politik den alten Eliten, wollen selbst regieren. Das unterscheidet Revolutionen von einem Militärputsch oder der Machtergreifung durch Diktatoren. Der Autor argumentiert gegen jene westlichen Historiker, die 1917 als Initiation einer Gewaltspirale sehen, die zu den Schrecken des Stalinismus führen musste, statt als gescheiterten Versuch, eine neue, bessere Gesellschaft zu begründen: »Für sie ist die Mobilisierung von Bauern, Soldaten und Arbeitern eher der Irrationalität und Aggression geschuldet als der Empörung über Ungerechtigkeit oder dem Verlangen nach Freiheit.«

Der Autor erinnert an die Attentate der »Narodnaja Wolja«, darunter an das von 1887 auf Alexander III., an dem Lenins Bruder Alexander Uljanow beteiligt war, an die Revolution von 1905, das Oktobermanifest von Nikolaus II. und erneute Repressionen sowie die wachsende Agonie des Reiches im Ersten Weltkrieg, die zur Abdankung des Zaren führte.

Den Anfang machten Frauen. Am 23. Februar 1917 forderten sie in Petrograd Brot und Frieden. Ähnliches geschah übrigens am Vorabend der Großen Revolution der Franzosen und der deutschen Novemberrevolution. Auch der Aufstand der schlesischen Weberinnen (und einiger Weber) war schon eine Ankündigung der späteren 1848er Revolution. Den Petrograder Frauen schlossen sich alsbald Fabrikarbeiter und Soldaten an. Eine Revolution war im Gange, doch - so ein Revolutionär - »sie fand uns, die Parteimitglieder, im Tiefschlaf vor, wie die törichten Jungfrauen im Evangelium«. Das betraf die Sozialrevolutionäre wie die Menschewiki und Bolschewiki. Letztere indes lernten schnell, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten.

Smith beschreibt lebendig und einfühlsam die spontane Übernahme von Ländereien der Gutsbesitzer durch die Bauern, die Streiks der Arbeiter und Kriegsmüdigkeit der Soldaten, die Krise der Provisorischen Regierung sowie schließlich den tollkühnen Griff der Bolschewiki nach der Macht auf dem II. Sowjetkongress am 7. November, auf dem sie mit 300 von etwa 650 Delegierten die Mehrheit innehatten. Als Menschewiki und Sozialrevolutionäre daraufhin den Smolny empört verließen, rief Trotzki ihnen nach: »Ihr seid elende Bankrotteure, eure Rolle habt ihr ausgespielt. Geht, wo ihr hingehört: auf den Müllhaufen der Geschichte!« Nicht gerade fein. Aber wider die Verdikte, es habe sich um einen konspirativen Putsch der Bolschewki gehandelt, erinnert Smith u. a. daran, dass auch die gestürzte Provisorische Regierung nicht demokratisch legitimiert war. Und im Nachwort seines auf- und anregenden Buches appelliert er: »Wir verstehen das Jahr 1917 nicht, wenn wir nicht die Phantasie aufbringen, uns noch einmal vor Augen zu führen, wovon die Bolschewiki damals beseelt wurden. Von Hoffnungen, Idealismus, Heldentum, Zorn, Furcht und Verzweiflung, woraus das brennende Verlangen nach Frieden, die tiefe Verachtung einer von der Kluft zwischen Arm und Reich zerrissenen Gesellschaftsordnung und der Zorn über die Herrschaft der Ungerechtigkeit in der russischen Gesellschaft entsprangen. Aus diesen Gründen haben Millionen Menschen weltweit, die von den kommenden Schrecknissen nichts wissen konnten, die Revolution von 1917 als eine Chance begrüßt, eine neue Welt zu schaffen, in der es Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit gibt.«

Das brillante Buch von Stephen A. Smith bestätigt einmal mehr den ausgezeichneten Ruf der angelsächsischen Geschichtsschreibung.

Stephen A. Smith: Revolution in Russland. Das Zarenreich in der Krise. Philipp von Zabern. 496 S., geb., 39,95 €.