Die große Verunsicherung greift um sich

Christian Klemm hält den Videobeweis in der Fußballbundesliga für falsch. Er zerhacke das Spiel und sorge nicht für mehr Gerechtigkeit, meint er.

Im Sommer 2016 wurden die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro ausgetragen. Genug Zeit zum Gucken hatte ich, denn damals war ich mit meinem zweiten Kind in Elternzeit. Wir saßen also gemütlich auf dem Teppich vor dem Sofa, um uns ein Hockeyspiel im Fernsehen anzuschauen. Zumindest wollte ich das Spiel sehen, meine Kleine stürzte lieber das Wohnzimmer ins Chaos. Wer da gegen wen spielte, weiß ich nicht mehr. Ist auch egal. Was mir schon damals mächtig auf den Zeiger ging, war der Videobeweis, der in der Partie mehrfach zur Anwendung kam. »Wie kann man ein Spiel nur so zerhacken?«, war mein Gedanke. Und: Fehlt nur noch, dass während der Unterbrechung Werbung eingeblendet wird. Zumindest das wurde dem Zuschauer erspart.

Fast eineinhalb Jahre später streitet ganz Fußballdeutschland über den Videobeweis, der in der Zwischenzeit in die Bundesliga eingeführt wurde - als einjähriger Testlauf. Man muss kein Prophet sein, um die These aufzustellen, dass er über die Saison nicht verlängert wird. Denn der Test ging bisher voll in die Hose. Vorläufiger Tiefpunkt: Am Montag wurde Hellmut Krug als Projektleiter geschasst. Der gebürtige Gelsenkirchener soll beim Spiel Wolfsburg gegen Schalke zweimal den Videoassistenten überstimmt haben - zugunsten der Schalker. Sein Nachfolger, Michael Fröhlich, hat die Vorwürfe gegen Krug inzwischen entkräftet. »Nach Rücksprache mit dem Videoassistenten und nach Kontrolle der visuellen und akustischen Dokumentation aus dem Review Center kann ich nichts erkennen, was auf eine Manipulation hindeuten würde«, erklärte er in der »Frankfurter Rundschau«.

Ob der Test bereits in der Winterpause abgebrochen wird, wie Dieter Hecking, Trainer von Borussia Mönchengladbach, spekuliert hat, darf indes bezweifelt werden. Zu groß wäre der Gesichtsverlust für den Deutschen Fußball-Bund.

Der Videobeweis bringt Gerechtigkeit. Gebetsmühlenartig haben die Befürworter des technischen Hilfsmittels dieses Argument runter gebetet. Und sie tun es weiter - trotz der eklatanten Fehlentscheidungen der vergangenen Wochen. Dabei kann von Gerechtigkeit im Profifußball überhaupt keine Rede sein. Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen, mit denen die einzelnen Teams in die Saison starten. Ein Wettrennen zwischen einem Lamborghini Diablo und einem Fiat Punto ist schon vor dem Start entschieden. Dass Bayern München am Saisonende vor dem SC Freiburg steht, auch. Apropos Freiburg: Übungsleiter Christian Streich hat sich zuletzt bitterlich über den Videobeweis beschwert. Erst kassieren seine Mannen gegen Hoffenheim ein Abseitstor trotz Videobeweises. Dann wird Freiburgs Verteidiger Caglar Söyüncü nach dessen Anwendung im Derby gegen den VfB Stuttgart vom Platz gestellt - eine Fehlentscheidung. Gerecht war das sicher nicht.

Nur weil der »TV-Schiri fast überall im Sport« Einzug gehalten habe, wie nd-Autor Oliver Kern schrieb, muss der Fußball nicht nachziehen. Er lebt von seinen Emotionen, seiner Leidenschaft, seinen Tragödien, Kuriositäten und Fehlentscheidungen. Sprich: Seinen Menschen mit Ecken und Kanten, Fehlern und Stärken. Ohne sie wäre die Balltreterei nicht viel mehr als ein technokratisches Ereignis, das keinen Platz für Zufälle und Absurditäten lässt. Ich möchte nicht, dass der samstägliche Nachmittagskick durch gottgleiche »Kontrolleure« an irgendwelchen Bildschirmen entschieden wird. Dann nämlich hätte es die »Hand Gottes« von Diego Maradona nie gegeben. Ja, ich schwelge gerne in »nostalgischen Erinnerungen« (Kern). Und ja, ohne den Videobeweis hat mir der Fußball besser gefallen. Viel besser sogar.

Momentan greift die große Verunsicherung in der Bundesliga um sich. Wann tritt der Videoschiedsrichter als nächstes auf den Plan? Können sich Spieler, Trainer und Fans über das gerade erzielte Tor freuen? Oder wird es - nach minutenlanger Unterbrechung - durch den Unparteiischen wieder aberkannt? Es wäre besser, die Chaostage schnellstmöglich zu beenden. Sonst gehe ich nur noch Fußballgucken, wenn mein Sohn spielt - beim VfB Einheit zu Pankow in der E-Jugend.

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