Die Rhythmen der Veränderung

Wie seit 1917 die Perspektiven der Klangkunst neu bestimmt wurden. Von Stefan Amzoll

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 8 Min.

Was klang Neues auf im Russland von 1917, als die Ketten des Zarenreiches fielen, die Geschütze an den Fronten zu donnern aufhörten und schon bald die sozialistische Republik ausgerufen wurde? Was bot die Musikkultur davor und die Folgejahre über? Im Vorkriegsrussland spiegelte ihr gewichtigster Teil noch die Scheidung der Klassen wider. Reichtum war entfaltet worden, der schwerer wog als das zusammengeklaute Gold in den Kammern der Zarenregimes, ein musikalischer Schatz, genährt von Klöstern und Kirchen, den Erben jiddischer und sonstiger nationaler Traditionen, den aristokratischen und bürgerlichen Trägern der Orchester- und Opernmusik in den Großstädten, nicht zuletzt den oft genug abschätzig betrachteten Volkstraditionen der Unterklassen. Aber dann überzog der Jammer des Krieges das Land.

Was der Erste Weltkrieg musikkulturell in allen betroffenen Ländern angerichtet hat, ist überhaupt noch nicht erforscht worden. Nicht zu zählen die unnatürlichen Tode an den Fronten, weitgehend unbekannt die Zahl der gefallenen Berufsmusiker, der zerstörten Kirchen mit ihren Orgeln in den Dörfern nahe oder inmitten der Schlachtfelder. Kaum zu errechnen die vielen Gefallenen, die zuvor in Chören sangen oder in Blas- , Tanz- und sonstigen Volkskapellen musiziert hatten. An Russlands Fronten wurden blutjunge Soldaten nicht anders verheizt als an denen vor Verdun oder an der Somme. Glücklicherweise steckte die Technik des Luftkrieges noch in den Anfängen, sodass, auf Osteuropa geschaut, Konzert- und Opernhäuser in Städten wie Warschau, Prag, Wien, Petersburg, Kiew oder Moskau wenigstens heil blieben. Aber die Armut griff allerorten um sich, auch unter den russischen Musikschaffenden. Die Häuser setzten Personal frei. Konzertsaisonprogramme schrumpften zusammen. Opernhäuser schlossen ihre Pforten, Verlage litten unter Papiermangel. Derlei gehörte in den Kriegsjahren zur Normalität - und auch noch Jahre danach.

Im Großen war durch die Februarrevolution viel gewonnen worden. Die Monarchie ging zu Bruch. Streikende, Aufständische in den Städten und die zahllosen, auf Entmachtung des Großgrundbesitzes drängenden Bauern sorgten dafür. Auch jene 70 000 Soldaten der Nord- und Westfront, die in den Februartagen den Befehl verweigerten und sich den Revolutionären anschlossen, zählten dazu. Im Jahr 1917 wechselten fünf bürgerliche Regierungen einander ab. Keine wollte den Krieg beenden. Keine bewältigte es auch nur im Ansatz, die allgemeine Not zu lindern. Mitnichten war die wechselnde Schar der Minister unter Kerenski imstande, für die Kultur neue Perspektiven zu formulieren. Und auch das Verlangen, die zusammengebrochenen Musikverhältnisse wiederaufzurichten, fand keinen fruchtbaren Boden. Erst die alle bisherigen Verhältnisse umstürzende, sich auch in den Folgejahren gegen innere und äußere Angriffe erfolgreich behauptende Oktoberrevolution setzte Rhythmen wirklicher Veränderung frei.

Der Rote Oktober war Fanal auch für die Musik, zumindest in den Großstädten, wo es junge Künstler scharenweise hinzog. Alles wohlbehütete Bisherige stand nach dem Sieg der Bolschewiki zur Disposition. Was Tradition hieß, war plötzlich ein Schimpfwort. Neutöner wie Nikolai Roslawetz, Alexander Mossolow oder Arthur Lourie oder die Vertreter der »Linken Front der Künste« (LEF) feixten über die Leute vom Bolschoi in Moskau und vom Mariinski-Theater in Petersburg, dem späteren Leningrad. Jedoch: Der »Nussknacker« wurde weiterhin getanzt, Tschaikowski und Glinka abermals aufgeführt. Und Volkslieder und -tänze verloren in keinem Moment ihre Beliebtheit. Wozu Kultur und Kunst? Die Frage ging in den Städten um. 1917 erfolgten Aufrufe der Futuristen an das revolutionäre Volk, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Die avantgardistischen Maler um Malewitsch suchten in öffentlichen Räumen, den Wandel auszugestalten. Dichter wie Majakowski griffen zum Pinsel und schufen ROSTA-Fenster mit Karikaturen auf die Weltordner in Frack und Zylinder. Die Frage »wozu« erfasste auch die Bildungsressorts der revolutionären Regierung. Anatoli Lunatscharski versammelte dort junge, revolutionsbegeisterte Künstler um sich und plante mit ihnen Projekte. Erwartungsgemäß versetzte jene gefährlich anmutende Frage besonders das Personal in den Tempeln der Kunst in helle Aufregung. Nichts schien mehr sicher. Es ging, kurz gesagt, um die Funktionsveränderung der Kunst und ihre Perspektiven. Befragt wurde ihr Verhältnis zum Leben, ihre Beziehung zur Technik und zu den neuen Adressaten.

Wahrlich, die Verhältnisse galoppierten wie die Gäule auf der Moskauer Rennstrecke, eingefangen von Maschinenmusiken, Avantgarde-Filmen, -Malereien und -Fotos. Reflexe darauf finden sich in Mossolows heftig pulsierender, heute noch gespielter Orchestermusik »Eisengießerei«. Sie entstand zwischen 1926 und 1928, doch sie dauert nur drei Minuten.

Was sind Widersprüche anderes als Treibriemen der Zukunft? Was wäre die moderne Technik wert, käme sie den Menschen nicht zugute und erleichterte ihr Leben? Die allerorten kursierende Formel »Kommunismus ist die Macht der Räte plus Elektrifizierung des ganzen Landes« (Lenin) nahmen jene Vorpreschenden wörtlich, welche Technik und Kunst ins Verhältnis zu bringen suchten. Der Zusammenhang tangierte auch die Musik und - die Politik. Iljitsch Lenin war begeistert etwa von den Erfindungen des jungen Physikers Lew Sergejewitsch Termen (später Léon Theremin) von der Universität Petrograd auf dem Gebiet der elektrischen Musikerzeugung. Er hatte den jungen Physiker im März 1921 in den Kreml geladen, seine Erfindungen zu demonstrieren.

Termen (1896 - 1993), der enge Verbindungen zum Moskauer Institut für Musikwissenschaft unterhielt, gilt als Schöpfer des »Ätherophons«, später »Theremin« genannt. Seine Vorführungen 1921 zur »Erzeugung von Tönen ohne körperliche Berührung der Apparatur« sprachen sich im ganzen Land herum. »Elektrizität« avancierte zur Zauberformel in Kreisen, die meinten, irgendwann werde der interpretierende Musiker obsolet sein. Auf Lenins Anregung sollte Termen lustigerweise ein Freiticket der Bahn erhalten und seine Apparatur 150 Mal in Russland zeigen. Gezeigt hat er sie vielerorts. 1927 ging der Wissenschaftler deutsch-französisch-russischer Herkunft mit seinem Theremin auf Welttournee, erstaunte die technikgläubige musikalische Welt und ließ sich 1928 in New York nieder. Sein Debüt als Theremin-Solist erfolgte 1931 in der Carnegie Hall.

1938 kehrte er in die UdSSR zurück, wurde zum Dank verhaftet wegen antisowjetischer Propaganda und nach zehnjähriger Haftverbüßung in einen sibirischen Gulag geschickt. Als späterer Insasse der Akademie für gefangene Wissenschaftler in Moskau war er beteiligt an der Entwicklung des Flugwesens. Daneben konstruierte Theremin »Wanzen« für den KGB, nachdem dieser ihm alle akademischen Würden aberkannt hatte, und erhielt dafür 1952 den Stalin-Preis I. Klasse. Während der 60er Jahre setzte er seine akustischen Forschungen an Moskauer akademischen Einrichtungen fort. An seinem Theremin-Instrument baut er in Varianten weiter und stellt ein elektrisches Violoncello her. 1990 tritt er in die KPdSU ein. In den Folgejahren international hochgeehrt, stirbt er im Alter von 97 Jahren in Moskau.

Zurück zu Kunst und Oktober. In den Revolutionsprozess mischte sich auch Alexander Blok (1880 - 1921), der große russische Symbolist. Kein Tonsetzer freilich, wohl aber einer, der musikalisch dichten konnte. Seine Verserzählung »Die Zwölf« von 1918 schrieb er unter dem unmittelbaren Eindruck der Oktoberrevolution. Sie spiegelt deren Nachwehen im Winter 1917/18 in Petersburg: nächtliches Ausgangsverbot, in den Straßen patrouillieren Rotarmisten und Marodeure, Raub herrscht, Prostitution, es finden Hinrichtungen ohne Urteil statt. Die Szenensplitter und Gesprächsfetzen des Poems zeigen Geschehnisse in einer Schneesturmnacht: Durch die vereisten Straßen Petersburgs zieht eine zwölfköpfige Rotarmistenpatrouille. Der eine von ihnen, Vanka, sieht dabei sein Mädchen, Katja, mit einem zaristischen Offizier. Er schießt auf beide und tötet sie. Aber er bereut seine Tat, und seine Kameraden beschwichtigen ihn. Sie ziehen weiter durch die Straßen, einer weißen Gestalt hinterher. Für einen Moment leuchtet sie im Schneesturm auf - vor ihnen ist Jesus Christus.

Dies finale Bild löste nach Publikation des Textes einen Skandal aus. Für die atheistischen Bolschewiki war ein Jesus ohnehin inakzeptabel. Ihre Gegner meinten, in der Vision Blasphemie sehen zu müssen. Die russische Kirche verurteilte »Die Zwölf« als »teuflische Vision«, und vom Vatikan wurde der Text indiziert. Blok, der inständig auf die geistige und moralische Erneuerung Russlands hoffte, meinte hingegen: »Ich habe es so gesehen vor meinen Augen.« Das musikalisch Interessante daran: Das Poem verarbeitet verschiedene Liedformen und Rhythmen: Aspekte der Marschmusik, in Worte gesetzte Intonationen der »Warschawianka«, dem Lied der revolutionären Arbeiter, und es ruft die Schatuschka auf, den Gassenhauer. Der Dichter Ossip Mandelstam nannte den Text »eine monumentale dramatische Schatuschka«.

Der Gedichtstil von »Die Zwölf«, ein Ausnahmewerk des Alexander Blok, war äußerst folgenreich. Majakowski hat daran nicht minder partizipiert als später Jewgeni Jewtuschenko. Blok nahm die Revolutionsereignisse, von der Mystik geküsst, wie ein akustisches Phänomen wahr. In seinem Aufsatz »Intelligenz und Revolution« vom Januar 1918 beschwört er seine Zeitgenossen, im Chaos der Ereignisse der Musik der Revolution mit ganzem Leib, mit ganzem Herzen, mit ganzem Bewusstsein zu lauschen.

Der Komponist Friedrich Schenker (1942 - 2013) komponierte 2005 Bloks »Die Zwölf« für Bariton, Viola, Oboe und Harfe. Das Stück kam im selben Jahr zur Greifswalder Bachwoche in St. Jakobi. Eine Arbeit, in deren ursprünglichen Revolutionsgehalt - der Zeit geschuldet - sich Melancholie mischt. In anderer Art relevant sind Schenkers Majakowski-Kompositionen, deren Produktion bis in die späten 1960er Jahre zurückgeht. Avantgardewerke kreieren, ohne Kritik auf den Plan zu rufen? Sie wären wesentlich funktionslos.

Lenin war seinerzeit für viele das Vorbild. In »Gespräch mit dem Genossen Lenin« von 1930 befragt Majakowski das Foto des Sowjetführers an weißer Wand. Er beschwert sich vor ihm über die Verhältnisse, verlangt nach Antworten darüber, was nicht eingelöst wurde, aber existenziell zu erledigen wäre. Er ruft dem Manne zu, er solle helfen. Gefahren lauerten. Eine Schar der Bürokraten mit Abzeichen, der Sektierer, Kulaken, Kriecher und Trunkenbolde treibe ihre Übel. Sie pfiffe auf das Errungene. Damit müsse Schluss sein. Aber das Packzeug vermehre sich noch. Die Instrumentalisten der »Eisler«-Gruppe Leipzig nehmen diese Rollen ein und treiben sie auf die Spitze. »Gespräch mit dem Genossen Lenin« ist Teil des Instrumentaltheaters »Jessenin-Majakowski-Recital«, das Schenker 1981 auf die beiden Selbstmörder so komponierte, als stünden sämtliche seiner sozialen Ideale zur Disposition, das kommunistische zumal.

Eine Nummer, die, käme sie zur Wiederaufführung, allen Oktoberrevolutions- und Lenin-Verächtern ins Gesicht schlüge.

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