nd-aktuell.de / 15.11.2017 / Politik / Seite 2

30 Prozent der Deutschen würden nur wenige Wochen durchhalten

Laut dem WSI-Verteilungsbericht reicht das Eigentum der meisten Deutschen nur für eine kurze Zeit der Versorgung ohne Einkommen

Simon Poelchau

»Vor ’nem prallgefüllten Schaufenster an Hunger krepieren. Wegen bedrucktem Papier. (Das ist Geld) Den Chef wegen der Sache im Parkhaus nicht anzeigen«, rappt die Berliner Hip-Hop-Kombo KIZ in ihrem Lied »Geld«. Vor allem aber bedeutet, etwas Geld auf die Seite schaffen zu können, finanzielle Durststrecken auf Grund von Jobverlust oder Krankheit überbrücken zu können. Wie lange ein durchschnittlicher Haushalt das machen kann, hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in seinem aktuellen Verteilungsbericht berechnet, den die gewerkschaftsnahe Forschungseinrichtung am Dienstag in Berlin vorstellte.

Für ihre Berechnung griffen die Forscher des WSI auf das Sozio-Ökonomische Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zurück. Neben dem staatlichen Mikrozensus ist dies die größte regelmäßige sozialwissenschaftliche Erhebung hierzulande, bei der jährlich rund 10 000 Haushalte unter anderem nach ihrer ökonomischen Situation gefragt werden. Das WSI berechnete nun, wie lange deren Vermögen im Schnitt ausreichen, um das Konsumniveau halten zu können, wenn die Haushalte komplett ohne laufendes Einkommen auskommen müssten - also auch ohne Rente oder Sozialleistungen. Dabei teilten die Forscher das Vermögen der Haushalte abzüglich der Schulden durch die realen Konsumausgaben. Diese lagen im Mittel zwischen 1250 bis 2600 Euro im Monat.

Das Ergebnis: Die untersten 30 Prozent der Haushalte in Deutschland würden trotz vergleichsweise niedriger Konsumausgaben nur wenige Wochen oder Monate ohne laufendes Einkommen über die Runden kommen, weil sie so gut wie kein Vermögen besitzen. Die Haushalte in der Mitte der Gesellschaft würden knapp zwei Jahre schaffen, während das reichste Zehntel es mindestens 13 Jahre schaffen würde, seinen vergleichsweise teuren Lebensstil aufrecht zu erhalten. Die reichsten fünf Prozent könnten sogar mehr als 21 Jahre von ihrem Vermögen leben.

Dabei gibt es aufgrund der sehr ungleichen Vermögen ein Gefälle zwischen Ost und West. Im Mittel können Haushalte in den neuen Bundesländern lediglich halb so lange Zeiträume überbrücken wie in den alten. Besonders schlecht sieht es für Alleinerziehende aus. »Rund 40 Prozent von ihnen verfügt über kein Vermögen«, sagt WSI-Forscherin Anita Tiefensee.

Entspannter ist die Lage bei den Senioren. Die könnten im Schnitt knapp vier statt knapp zwei Jahre von ihrem Ersparten leben. »Allerdings gibt es auch unter den Älteren mehr als 20 Prozent, die höchstens wenige Wochen von ihrem Vermögen leben könnten«, so Tiefensee.

Natürlich stürzt niemand komplett ins Nichts. Doch wer mehr als das vom Jobcenter zugestandene Schonvermögen hat, der muss erst mal alles aufbrauchen, bis er Anrecht auf Hartz IV hat. Und auch bei einem durchschnittlichen Nettoverdienst von 1843 Euro im Monat werden die meisten wohl schon im ersten Jahr der Joblosigkeit an ihr Erspartes gehen müssen. Denn die Höhe des Arbeitslosengelds I beträgt nur 60 beziehungsweise 67 Prozent dieses Gehalts.

»Wer viel Vermögen hat, steht wirtschaftlich weitaus unabhängiger da«, sagt die wissenschaftliche Direktorin des WSI, Anke Hassel. Denn für sie stellt ausreichend Vermögen nicht nur Sicherheit, sondern auch Wahlmöglichkeiten.

So wird sich jemand, der ausreichend Geld für einige Jahre angespart hat, bei einem Jobverlust vermutlich überlegen können, ob er beruflich noch mal umsattelt oder sich selbstständig macht, und wer für ein, zwei Jahre genug angespart hat, wird vielleicht das eine oder andere schlechte Jobangebot ausschlagen können. Doch wer nicht mal genügend Geld für zwei, drei Monate hat, wird vermutlich auch den schlimmsten Job nicht kündigen, da man im Fall einer eigenen Kündigung in den ersten drei Monaten kein Arbeitslosengeld I bekommt.

Neben guten Löhnen, damit auch die unteren Einkommen genügend Geld für schlechte Zeiten zurücklegen können, sind dem WSI deswegen ausreichende Lohnersatzleistungen und existenzsichernde Arbeitslosengeld-II-Leistungen wichtig. »Zudem gilt es, die Schonvermögen zu erhöhen«, schreibt das WSI in seinem Bericht. Auch das öffentliche Rentensystem soll den Forschern zufolge armutsfest gemacht werden. Vor allem aber soll neben dem staatlichen auch der private Wohnungsbau gefördert werden, so dass auch untere und mittlere Einkommen sich eigene vier Wände leisten können.