nd-aktuell.de / 16.11.2017 / Gesund leben / Seite 10

Verdächtige Abweichung

Seit Jahren steigt die Zahl der Autismusdiagnosen. Was sind die Ursachen dafür?

Martin Koch

Der Begriff Autismus wurde bereits 1911 von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler geprägt. Autisten waren für ihn Menschen mit Schizophrenie, die auf sich selbst bezogen und losgelöst von der Wirklichkeit lebten. Mit der Zeit jedoch wandelte sich die Bedeutung des Begriffs. In den 1940er Jahren grenzten der amerikanische Psychiater Leo Kanner und der österreichische Kinderarzt Hans Asperger Autismus und Schizophrenie voneinander ab. Sie beschrieben Autismus als eigenständige Entwicklungsstörung, die schon im Kindesalter auftritt. Während sich schizophrene Menschen aktiv in ihr Inneres zurückziehen, leben Autisten primär in einem Zustand der Introversion, der es ihnen nicht erlaubt, ein »normales« Sozialleben zu führen.

Experten gehen heute davon aus, dass es sich bei Autismus um ein Kontinuum von sehr leichten bis schweren Verlaufsformen handelt. Deshalb ist in der Diagnoseklassifikation nur noch von einer »Autismus-Spektrum-Störung« (ASS) die Rede. Darunter fallen sowohl der mit erheblichen Einschränkungen verbundene frühkindliche Autismus (Kanner-Syndrom) als auch das Asperger-Syndrom, das sich gewöhnlich erst im Schulalter bemerkbar macht und bei dem die autistischen Züge deutlich weniger ausgeprägt sind.

Ungeachtet dessen gibt es mindestens drei Merkmale, die bei fast allen Autisten auftreten: Sie haben Schwierigkeiten, soziale Kontakte zu knüpfen, sind in ihrer Sprachentwicklung beeinträchtigt und neigen zu stereotypen, sich wiederholenden Verhaltensmustern.

Anfangs galt Autismus als eine eher seltene Entwicklungsstörung. In den 1970er Jahren schätzten US-Forscher, dass unter 14 000 Kindern lediglich eines autistisch sei. Es gab deshalb auch kaum Bemühungen, für solche Kinder eigene Therapieformen zu entwickeln. Bisweilen behalf man sich vorschnell mit der Diagnose Schizophrenie. In den 1990er Jahren explodierte die Zahl der Autismusfälle regelrecht. Nun hieß es plötzlich, dass eines von 100 Kindern an einer Form von Autismus leide. Glaubt man einer neuen Studie aus Südkorea, dann ist sogar jedes 38. Kind autistisch.

Was sind die Ursachen für diese Entwicklung? Für Aufsehen sorgte 1998 die These des britischen Arztes Andrew Wakefield, wonach zwischen Impfungen gegen Mumps, Masern und Röteln (MMR) und dem gehäuften Auftreten von autistischen Störungen ein kausaler Zusammenhang bestehe. Ein solcher konnte in nachfolgenden Studien nicht bestätigt werden. Seitdem ist Wakefields Reputation als Forscher dahin. Einen großen Verehrer allerdings hat er: Donald Trump, der den Briten während des US-Wahlkampfs traf und dessen Thesen über Twitter verbreitete.

Heute besucht der größte Teil der Kinder in Deutschland einen Kindergarten. Autistische Störungen werden daher früher erkannt, zumal auch medial sensibilisierte Eltern penibel darauf achten, ob ihre Kinder sich »normal« entwickeln. Mitte der 1990er Jahre wurde überdies das Asperger-Syndrom in das internationale Diagnosesystem DSM IV aufgenommen. »Das erschien notwendig«, erklärt der daran beteiligte US-Psychiater Allen Frances, »weil manche Kinder eine mehr oder weniger normale Sprachentwicklung aufwiesen, aber dennoch gravierende soziale Schwierigkeiten und Verhaltensstörungen zeigten.« In der Folge stieg die Zahl der diagnostizierten Autismusfälle sprunghaft an.

Dennoch lasse sich damit nicht das ganze Ausmaß der »Autismus-Epidemie« erklären, meint Frances, für den Autismus auch eine Art Modedia-gnose ist. So würden heute selbst leichte Verhaltensänderungen ohne klinische Bedeutung als verdächtig eingestuft. Den dramatischen Schwenk von der Unter- zur Überdiagnose lastet der Forscher unter anderem Interessensgruppen an, die von der Ausbreitung von Autismus profitierten. Eine solche Interessengruppe habe auch die oben erwähnte Studie in Südkorea finanziert, die methodisch mangelhaft sei. Wenn diese Entwicklung in der Diagnostik anhalte, so Frances, werde auch die Zahl der Autismusfälle weiter steigen.

Nun gibt es zweifellos Formen von Autismus, die es den Betroffenen schwer bis unmöglich machen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Bei Menschen mit Asperger-Syndrom ist das nicht so. Sie sind kognitiv keineswegs eingeschränkt. Oft sind sie sogar überdurchschnittlich intelligent, aber trotzdem irgendwie anders als der Durchschnitt. Doch wie ist dieses »irgendwie« zu verstehen? Liegt milden Autismusformen tatsächlich eine Störung zugrunde, oder sind sie einfach Ausdruck der neurobiologischen Vielfalt des Menschen, kurz Neurodiversität genannt?

Mediziner und Psychologen, die Letzteres annehmen, sehen folglich auch die Einführung der umfassenden Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung« mit Skepsis. So ist etwa der Freiburger Psychiater Ludger Tebartz van Elst der Auffassung, dass das Asperger-Syndrom in den meisten Fällen ein Eigenschaftscluster sei, der im Randbereich der statistischen Verteilungskurve liege. Eine klare Grenze zwischen »normal« und »nicht normal« lasse sich hier nicht ziehen, dafür fehlten die objektiven Kriterien. Bei der Körpergröße von Menschen ist es ähnlich. Niemand käme zum Beispiel auf die Idee, auffallend große Basketballspieler für anormal zu halten. Und so wie eine Gesellschaft die besonderen Bedürfnisse dieser Sportler berücksichtigt (Kleidung, Möbel etc.), sollte sie auch den Dispositionen von Autisten Rechnung tragen ebenso wie den Problemen, die vielen daraus erwachsen.

Mittlerweile hat sich sogar eine internationale Neurodiversitätsbewegung formiert, deren einflussreichste Untergruppe die Rechte von Autisten vertritt. Ihr Name: »Autism Rights Movement«. Zu den Zielen dieser Bewegung gehört neben der Förderung der Inklusion auch die Einrichtung von sozialen Netzwerken, in denen autistische Menschen auf ihre eigene Art und Weise kommunizieren können. Zu guter Letzt geht es um den Abbau von Diskriminierung. Denn häufig wird das Wort »autistisch« als Schimpfwort verwendet, etwa zur Kennzeichnung von Menschen, denen man vorwirft, dass sie jeglichen Bezug zur Wirklichkeit verloren hätten.

Eine der prominentesten Autistinnen der Gegenwart ist die US-Amerikanerin Temple Grandin. Schon als Dreijährige neigte sie zu heftigen Wutausbrüchen. Aber auch sonst war ihr Verhalten anders als das ihrer Altersgenossinnen. Mühsam nur erlernte Grandin ihre Muttersprache, besuchte mehrere Förderschulen und studierte schließlich Psychologie. Heute ist sie Dozentin für Tierwissenschaften und eine anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Verhaltensbiologie der Nutztiere. Und sie besteht darauf, dass ihr Autismus Teil ihrer Persönlichkeit und nicht ein abtrennbares Charaktermerkmal sei. »Wenn ich mit den Fingern schnippen könnte und nicht mehr autistisch wäre, ich würde es nicht tun«, erklärte Grandin einmal. Viele Autisten denken vermutlich ähnlich. Sie begreifen ihr Anderssein und wollen dennoch so bleiben, wie sie sind.