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Sahra und der Aufstand der Easy-Jetter

Machtkampf in der LINKEN: Die Kritik an Lafontaine und Wagenknecht ist zum Teil hysterisch und naiv

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 8 Min.

Kommt zusammen, ihr United Colors Of Benetton! Lasst uns die Staats-Knechtschaft abwerfen und nur noch atomisierte, freie Google-Coca-Cola-Deutsche-Bank-Individuen sein! No Nations, No Borders!

Eine Welt ohne Grenzen und Nationen würde eine privatisierte sein: keine greifbaren Machtzentren, kein einklagbares Recht, keine ausgleichenden Steuern, keine sozialen Mindeststandards, kein staatliches Gewaltmonopol - denn wer sollte all das in einer grenzenlosen Welt wie durchsetzen? Statt dessen: global vagabundierende Lumpenproletarier, die in einem sozialen Unterbietungswettbewerb gegeneinander ausgespielt und von Privatarmeen gegängelt werden.

Man hat doch bereits einen Vorgeschmack auf diese Entwicklung. Warum sie noch von »links« eskalieren? Um auch »uns« dieses Elend endlich schmecken zu lassen? Wem wäre damit gedient? Die öffentliche Daseinsvorsorge würde doch - ohne staatlichen, also öffentlich-demokratischen Schutz - für alle (also auch für Migranten) abgeschafft, ihre Elemente meistbietend verscherbelt und dann zur Erpressung aller Bürger verwendet. Und wer würde dann noch für das Recht ausgegrenzter Minderheiten einstehen? Die global »vernetzte« Antifa?

Die undurchdachte Easy-Jet-Philosophie ist keine linke Utopie, sondern eine neoliberale Dystopie. Sie klingt als Slogan verführerisch, würde real aber in die soziale Katastrophe führen. Sie ist der Traum einer globalistischen Finanz- und Internetwirtschaft, die ideologie- und ortlos nirgendwo mehr Rechenschaft über ihre Gewinne ablegen möchte. Bei einer Erosion der staatlichen Strukturen (wozu auch Grenzen gehören) kann der nichtprivilegierte Bürger nur verlieren. Ein jüngeres Papier der LINKEN-Fraktion im Bundestag erklärt darum auch richtig, dass das Konzept der Grenzenlosigkeit für einen finanziell gepäppelten Erasmus-Studenten völlig anders klingt als für einen ausgeplünderten Arbeitslosen.

Katja Kipping, Parteichefin der LINKEN, ist dennoch große Fürsprecherin einer grenzenlosen Welt. Man will Frau Kipping keine neoliberale Katastrophensehnsucht unterstellen. Ihr sicherlich gut gemeinter Fokus liegt auf den Rechten der Geflüchteten. Doch die dafür genutzte grenzen- und staatsfeindliche Rhetorik ist geeignet, den Weg für gravierende und negative Umwälzungen zu ebnen. Darum erscheint Kippings Trommeln für eine diffuse weltweite Barrierefreiheit mindestens naiv.

In einem jüngeren Interview Kippings mit der »taz« schrumpft ihre »No Nations, No Borders«-Philosophie denn auch zu dem etwas kleineren Wort »Bewegungsfreiheit« - auch will sie dieses Konzept vorerst gar nicht umsetzen: »Meiner Meinung nach geht es beim Thema Bewegungsfreiheit um eine Haltungsfrage und nicht um eine unmittelbare Umsetzungsperspektive.« Aber wird hier für eine »Haltung« nicht ein großes, ja unverantwortliches Risiko eingegangen - nämlich das des zerstörerischen Grabenkriegs in der Linkspartei und über sie hinaus? Für eine Haltung zu einem - wie man selber eingesteht - unrealistischen und wie hier eingangs beschrieben nicht erstrebenswerten Szenario? Virtueller und ferner von Relevanz kann sich Politik kaum bewegen.

Das hat Katja Kipping nicht davon abgehalten, die Frage der »für alle« offenen Grenzen gegenüber LINKE-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht mit emotionaler Wucht aufzuladen. Die (virtuelle!) Frage wurde zu üblen Diffamierungen von vermeintlich linker Seite gegen Wagenknecht genutzt. Sie wurde unnötig zur spaltenden Gretchenfrage stilisiert, die die zahlreichen Gemeinsamkeiten unter den Strömungen der LINKEN überdeckt. Überdeckt werden dadurch übrigens auch die sozialen Initiativen des »Kipping-Lagers«. Das ist tragisch.

Der vorläufige Gipfel der versuchten Wagenknecht-Demontage war die Attacke auf die Zuständigkeiten der Fraktion durch Kipping und Bernd Riexinger im September. Der Angriff geriet allerdings zum Desaster, weil ihn Wagenknecht nach allen Regeln der politischen Kunst pariert hat. Dass die sich verteidigende Wagenknecht von den meisten großen Medien hinterher fälschlich als Aggressorin hingestellt wurde, war nicht die erste Verleumdungs-Allianz zwischen Wagenknecht-Kritikern und Presse-Mainstream. Sicher muss Wagenknecht nun endgültig mit dem Klischee des »Eiskalten Engels« leben. Es ist nicht schön, wenn man Parteifreunde öffentlich demütigen muss. Aber: Wenn man einen Machtkampf aufgezwungen bekommt, dann darf man ihn auch annehmen und gewinnen.

Vorangegangen war dem September-»Putschchen« (Jakob Augstein) durch Kipping eine aufgeregte Kontroverse um einen Artikel von Oskar Lafontaine. Lafontaine hat, im Gegensatz zur verzerrten Darstellung durch Teile seiner Kritiker, in seinem hysterisch aufgenommenen Kommentar keine rassistischen Äußerungen getätigt. Der Hinweis, dass viele der hier ankommenden Flüchtlinge innerhalb der z.B. syrischen Sozialstruktur zur Mittelschicht gehören, ist weder neu noch rechts noch sozialdarwinistisch - es ist ein Allgemeinplatz. Man muss sich auch ziemlich naiv stellen, um Lafontaines Hinweis, dass es den Menschen in den Lagern noch dreckiger als »unseren Flüchtlingen« geht, als Angriff auf die hier Ankommenden zu deuten. Und auch die Forderung, dass die Kosten der Flüchtlingsverwaltung nicht an armen Kommunen hängenbleiben sollen, müsste für Linke selbstverständlich sein.

Die Existenz dieser Kosten kann niemand bestreiten. Dass sie zusätzlichen gesellschaftlichen Druck entfalten, ebenfalls nicht. Wie kann man dann die Forderung beanstanden, dass dieser Druck nicht auf den Schwächsten abgeladen wird? Man nimmt doch damit den Geflüchteten nichts weg.

Man könnte sogar noch weiter gehen als Lafontaine und fragen, ob Deutschland überhaupt das Recht hat, die syrische Mittelschicht nun durch die allseits gepredigte »Integration« einfach zu absorbieren. Denn die Situation ist grotesk und die Heuchelei ist grenzenlos: Deutschland treibt durch propagandistische und logistische Unterstützung jener Terror-Paten, die Syrien angreifen, und durch die scharfen anti-syrischen Sanktionen der EU die Menschen aus dem Land und behält anschließend die gut Ausgebildeten als Fachkräfte - Menschen, die beim syrischen Wiederaufbau fehlen werden. Solche Fragen, auf die es keine eindeutigen Antworten gibt, stehen nicht im Widerspruch zu einer würdigen Behandlung der Geflüchteten, deren Recht auf Asyl nicht angetastet werden darf.

Immerhin: Das Wort »Fluchtursachen« führen auch CDU, SPD und Grüne neuerdings heuchlerisch im Mund - nachdem sie in den letzten Jahren beflissentlich geholfen haben, eben diese Ursachen mit zu erschaffen. Nun werden jene Fluchtursachen pflichtschuldig als diffuse Floskel angehängt, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen: Die Syrer, Iraker und Afghanen (die mit Abstand größten Gruppen der aktuell zu uns Geflüchteten) fliehen allesamt vor westlich dominierten Kriegen - denn auch in Syrien »herrscht« kein Bürger-, sondern ein Angriffskrieg. Vorgebracht wird die Phrase zudem mit dem Klang, als sei eine Beseitigung dieser Ursachen ein evolutionärer Prozess, eine nicht abschätzbare Naturgewalt, die zunächst zu vernachlässigen sei. Und das, nachdem Kriegsgegner in den letzten Jahren vom selben Personal mit der lächerlichen »Querfront«-Masche diffamiert wurden.

Wagenknecht und Lafontaine sind zwei der erschreckend wenigen öffentlichen Personen von Gewicht, die diese Heuchelei ansprechen. Dafür werden sie regelmäßig von Parteifreunden attackiert - und von jenen Redakteuren, die die Kriege durch Propaganda mit vorbereitet haben.

Es wurde schon oft gesagt, fällt aber immer wieder unter den Tisch: Wagenknecht hat (im Kontrast zu ihren eingestreuten Verbal-Provokationen) alle Asyl-Verschärfungen abgelehnt. Die Pflicht, Geflüchteten Schutz zu gewähren, wurde weder von ihr noch von Lafontaine angezweifelt. Sie in die rechte Ecke zu stellen, ist bizarr. Warum also hat Wagenknecht dennoch das Wort »Gastrecht« und ähnliche (extra) missverständliche Vokabeln genutzt, wenn diese doch nicht ihrer Haltung entsprechen? Warum tut sie sich die erwartbaren Empörungsstürme an? Darüber sollten die wütenden Genossen mal nachdenken. Es hat mit Taktik, Realitätssinn, Wahlchancen und vielleicht sogar mit gesellschaftlichem Verantwortungsgefühl zu tun. Diese Taktik ist weder rassistisch noch macht sie Rechte »salonfähig«.

Darum ist ein Gipfel der Absurdität erreicht, wenn Angela Merkel von »linker« Seite vor Wagenknecht in Schutz genommen wird. Dieses Verhalten ignoriert nicht nur Merkels radikale Abkehr von einer humanen Flüchtlingspolitik. Denn auch schon vorher handelte die Kanzlerin angesichts der lauernden rechten Gefahr höchst fahrlässig - nicht bei der mutigen und richtigen Grenzöffnung(!), sondern bei der (Nicht-)Reaktion darauf: Wenn man sagt, »Wir schaffen das«, dann muss man, wie Wagenknecht richtig ergänzt, auch irgendwo das Geld dafür holen. Wenn man aber selbst während der viele Bürgerseelen erschütternden »Flüchtlingskrise« nicht von der Philosophie des kollektiven schlechten Gewissens und des Gürtel-enger-Schnallens abrückt, bedeutet die Floskel doch eiskalt: »Ihr schafft das schon«.

Statt des großen (sichtbaren!) staatlichen Eingreifens und der üppigen (symbolträchtigen!) Investitionen, die viele Bürger von der AfD-Wahl abgehalten hätten, wurde bei der Betreuung der Geflüchteten schamlos auf leere warme Worte und den Helferkomplex gesetzt und (neoliberal) die private Eigeninitiative ausgenutzt. Viele Menschen im Lande »fühlen« sich nicht im Stich gelassen, sie wurden im Stich gelassen. Mit dieser Feststellung schmälert und relativiert man nicht das Martyrium der Geflüchteten.

Lafontaine fordert zu Recht, die Flüchtlingsfrage mit sozialen Aspekten zu verbinden. Dagegen läuft neben dem »linken« auch bereits der neoliberale Widerstand. Die erste Parole, die den AfD-Erfolg von Verarmung trennen soll, lautet: Den AfD-Wählern geht es ja gar nicht schlecht, das ist alles Mittelklasse, die einfach nur »frustriert« und »zutiefst verunsichert« ist - und sich natürlich nur abgehängt »fühlt«.

Diese Lieblings-These neoliberaler und einiger »linker« Redakteure ist fragwürdig, ein großer Teil der AfD-Klientel (und zwar der, der die LINKE interessiert!) kommt aus der Arbeiterschaft. Aber selbst wenn die These stimmen sollte: Man muss nicht arbeitslos und/oder total verarmt sein, um großes Unbehagen angesichts eines krass ungerecht verteilten Reichtums zu verspüren. Der richtige Hinweis, dass es dem ärmsten Schlucker bei uns materiell noch besser geht als dem durchschnittlichen Flüchtling, darf nicht als Argument zu weiterer Beschränkung der Unterschicht dienen. Auch wenn sich viele Linke eine groteske materielle Genügsamkeit einreden lassen, müssen dem zum Glück nicht alle folgen. Man spielt auch nicht »Menschen gegeneinander aus« und man macht sich nicht »gemein«, wenn man nach den Motiven sozial benachteiligter AfD-Wähler forscht.

Einige Linke propagieren nun sogar, dass man sich um die von der LINKEN zur AfD gewanderten Wähler nicht bemühen sollte. Weil das jetzt unbelehrbare Nazis seien. Dieses pseudo-harte Gerede ist billig, fatalistisch, arrogant und unverantwortlich. Es wird ein mitunter harter Job sein, die Menschen für die LINKE zurückzugewinnen. Doch jemand muss ihn machen.

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