Fasziniert von der Antike

300. Geburtstag: Johann Joachim Winckelmann

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.

Goethe sprach von einem »Donnerschlag bei klarem Himmel«, einem »ungeheueren Vorfall«. So bestürzt wie er reagierte die gesamte geistige Welt in Europa, als sich die schlimme Nachricht aus Triest herumsprach. Am 8. Juni 1768, morgens gegen zehn, war in einem Gasthof der Stadt ein Signor Giovanni von einem Kleinkriminellen ermordet worden. Das Opfer war inkognito gereist. Sein wahrer Name lautete Johann Joachim Winckelmann. Der Verlust unvorstellbar. Kein Wunder: Sie alle standen auf Winckelmanns Schultern. Keiner von den Jungen, weder Herder noch Goethe oder Schiller, war ohne ihn, das Jahrhundertgenie, den Erwecker der Antike und Schöpfer einer bewunderten Kunstprosa, denkbar. Er hatte für die kommenden Generationen das Bild von der klassischen Kunst geprägt und war damit der Wegbereiter der deutschen Klassik geworden.

Er kam von ganz unten. Winckelmanns Geburtshaus, eine armselige Kate, an deren Stelle das später vergrößerte und mehrmals umgebaute Museum zu finden ist, stand in Stendal. Dort wurde er am 9. Dezember 1717 als Sohn eines Schuhmachers geboren. Er hatte nicht viel zu erwarten. Bestenfalls, so meinten die Eltern, könnte er Lehrer, vielleicht auch Pastor werden. Sie ahnten nichts von seinem Fleiß, seiner Besessenheit, seiner Bereitschaft, sich ein unglaubliches Arbeitspensum aufzuladen. Mit zwanzig nahm er ohne jede Neigung in Halle das Theologiestudium auf. Er gab es 1741 wieder auf, zog weiter nach Jena, um Medizin und Mathematik zu studieren, lebte dabei unter kümmerlichsten Bedingungen. 1743 wurde er, miserabel entlohnt, Konrektor in Seehausen, einem verschlafenen märkischen Nest. Er unterrichtete Hebräisch, Geografie, Logik, Geschichte, Latein und Griechisch, musste aber auch predigen und Nachhilfestunden geben. Die fünf Jahre, die er dort zubrachte, zeigen einen physisch und psychisch äußerst robusten jungen Mann, der den ganzen Winter lang, wie überliefert ist, nicht ins Bett kam, sondern »in einem Lehnstuhl in einem Winkel vor einem Tisch« saß, umgeben von mächtigen Bücherstapeln. Bis Mitternacht verbrachte er so mit seinen Studien, dann schlief er bis früh um vier auf seinem Stuhl, »zündete sein Licht an und studirte für sich bis um 6 Uhr«. Danach, und bis es wieder in die Schule ging, erteilte er noch einem Zögling Unterricht.

Winckelmann hatte alles gelesen, die alten Griechen, die französischen Aufklärer und großen Geschichtswerke, als er 1748, nun Privatbibliothekar eines Grafen, nach Sachsen kam, in die Nähe von Dresden, erleichtert, der Altmark und ihren elenden Zuständen entkommen zu sein. Und hier, nach langer, mühsamer Suche, fand er endlich auch zu seiner Bestimmung. Nicht Buchgelehrter, Bibliothekar und Antiquar wollte er sein, sondern Kunstkenner und Kunsthistoriker. Er wusste es, seit er in Dresden die großen Werke der Malerei, der Bildhauer- und Baukunst gesehen hatte, die Originale, die er bisher nur aus Büchern kannte. Fasziniert vertiefte er sich in die Schöpfungen der Alten, suchte ihre Botschaft, sah das Griechentum wie eine Offenbarung, fing sogar selber an zu zeichnen und entschloss sich zu seiner ersten Schrift. Sie hieß »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst«, erschien 1755 in lediglich fünfzig Exemplaren, wurde tausendfach abgeschrieben und machte ihn schlagartig zu einer Kapazität.

Da war seine Aufgabe, die er mit großer Einfühlung und ungewöhnlichem Ausdrucksvermögen bewältigte, zum ersten Mal umrissen. Er wollte die Denkmäler der Antike in ihren stilgeschichtlichen Zusammenhang rücken, ihre makellose Schönheit als menschenerziehendes Ideal beschreiben und den Künstlern den einzigen Weg weisen, um »groß, ja wenn möglich unnachahmlich zu werden«. Er bestand in der »Nachahmung der Alten«. Und so verwandelte er Kunstgeschichte und Archäologie, die bis dahin in den Händen von Dilettanten gelegen hatten, als Erster in eine Wissenschaft. Winckelmann, der 1755 nach Rom ging, dort Präsident der Altertümer sowie Scriptor der Vatikanischen Bibliothek wurde, brauchte neun Jahre, dann konnte er alle Beobachtungen und Erkenntnisse in seiner »Geschichte der Kunst des Altertums« (1764) bündeln. Mitten in einer Zeit der Not, der Bedrückung und der Folgen eines wüsten, sieben Jahre wütenden Krieges rühmte sein Werk die Schöpferkraft der Alten und ihre Kunst, in ihren Statuen die harmonische Übereinstimmung des Körpers, der Seele und des Geistes auszudrücken.

Nie ist Winckelmann glücklicher und zufriedener gewesen als in der Zeit, die er in Rom verbrachte. Doch er blieb auch voller Unrast. Plötzlich fasste er den rätselhaften Entschluss, wieder nach Deutschland zu gehen, revidierte ihn erschrocken, kaum dass er das Land betreten hatte, kehrte um, hatte in Wien eine Audienz bei Kaiserin Maria Theresia und danach bloß noch ein Ziel: Rom. Er kam nur bis Triest.

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