Die große Görlitzer Leere

Die geplante Schließung des Siemens-Werkes trifft eine ganze Region ins Mark

  • Hendrik Lasch, Görlitz
  • Lesedauer: 6 Min.

Es gibt Tage, da laufen sie in Görlitz mit breitem Grinsen durch die Gassen der sanierten Altstadt. Anfang November wurde die Stadt in Ostsachsen zum besten Filmdrehort des Jahrzehnts in Europa gekürt. Hier haben Kate Winslet für den Film »Die Vorleserin« oder Regisseur Quentin Tarantino für »Inglourious Basterds« gedreht; dessen Kollege Wes Anderson ließ gleich die ganze Crew, die an seinem Film »The Grand Budapest Hotel« arbeitete, im prunkvollen, wenn auch seit Jahren leerstehenden Jugendstil-Kaufhaus der Stadt einziehen - einer Stadt, die mittlerweile als »Görliwood« vermarktet wird.

Und gleich danach gibt es Tage, da hängen in Görlitz die Köpfe, und in den Taschen ballen sich die Fäuste. Ebenfalls im November verkündete der Siemens-Konzern, dass er wegen der Probleme in der Kraftwerkssparte Tausende Jobs streicht und zwei Werke komplett schließt. Eines davon ist das Turbinenwerk Görlitz. Fast 900 Beschäftigte; ein Betrieb, der eine 111-jährige Tradition hat und in dem die ansehnlichen Tariflöhne der Metall- und Elektrobranche gezahlt werden. Einer von nur noch zwei großen Arbeitgebern des verarbeitenden Gewerbes in der Stadt, und nicht zuletzt eine Firma, von deren Beschäftigten praktisch jeder Görlitzer einen kennt. Dass dort im Jahr 2023 die Lichter ausgehen sollen, ist ein Tiefschlag, sagt Eva Wittig von der Europastadt Görlitz Zgorzelec GmbH: »Das torpediert uns auf allen Ebenen.«

Wittig sitzt in einem der stolzen Bürgerhäuser, die von einer Tradition als reiche Handelsstadt an der Via Regia künden; vor sich eine Broschüre: »Das Beste aus zwei Welten«, steht dort über einer stimmungsvollen Aufnahme der Kirche St. Peter und Paul an der Neiße: »Mehr Investitionsvorteile gibt es nirgends.« Wittig und ihre kommunale Gesellschaft werben um Firmenansiedlungen in der Stadt ganz im Osten der Republik. Potenzielle Investoren umgarnt man mit Argumenten wie der guten Lage in Europa, den ausgebildeten Fachkräften und der Förderung, die wegen der Grenznähe höher ist als sonst in Sachsen. Man führt auch ein quirliges kulturelles Leben an, das angenehme Wohnklima und eine gewisse Aufbruchstimmung, die viele in Görlitz erfasst hat. Und nun: ein Nackenschlag. Und der Eindruck, 25 Jahre in die Vergangenheit versetzt worden zu sein. Mancher, sagt Wittig, »hat das Gefühl: Jetzt machen sie wieder alles dicht«.

Mit Görlitz ging es schon einmal kräftig bergab, wie mit der gesamten Region Ostsachsen. In der Oberlausitz wurden mit dem Ende der DDR große Teile der Textilindustrie abgewickelt; von den Tausenden Arbeitsplätzen im Kombinat Lautex blieb eine überschaubare Anzahl Jobs bei Firmen wie Frottana in Großschönau. Auch die Braunkohle war ein großer Arbeitgeber - und brach nach 1990 weg: Aus Tagebaulöchern wurden Seen und Erholungsgebiete; das Kraftwerk Hagenwerder ist abgerissen. Maschinenbau, Optik, der Fahrzeugbau mit »Robur« in Zittau, die Produktion großer Landmaschinen in den Werken des Kombinats »Fortschritt«: alles mehr oder weniger weg. Die Arbeitslosenzahlen kletterten im Osten Sachsens auf Rekordniveau.

Ganz so düster wie einst sieht es inzwischen nicht mehr aus, sagt Dana Dubil. Die 33-jährige ist seit kurzem DGB-Chefin in Ostsachsen. Sie stammt aus Kodersdorf, einem kleinen Ort an der Autobahn A4, dessen Gewerbegebiet eine Art industrieller Kern geworden ist. Zu einem Sägewerk haben sich ein Felgenhersteller und eine Filiale der Elbe Flugzeugwerke Dresden gesellt; einige hundert Jobs sind entstanden. Auch anderswo haben sich mittelständische Firmen angesiedelt, etliche davon in Görlitz: der Schuhhersteller Birkenstock, ein Callcenter, jüngst erst der Schweizer Anlagenbauer SKAN, der Maschinen für Reinräume produziert.

Allerdings: In vielen der Unternehmen sind die Gehälter nicht berauschend. Dubil weist auf eine Tabelle, in der die mittleren Bruttomonatslöhne aufgeführt sind. Für Deutschland liegt der Wert bei 3133 Euro, für Sachsen bei 2388 Euro. Görlitz rangiert noch weiter hinten - bei 2119 Euro, einen Tausender unter dem bundesweiten Durchschnitt. Der Freistaat habe sich zwar »vom Niedriglohn- zum Mindestlohnland entwickelt«, sagt Dubil mit säuerlichem Lächeln. Aber wirklich gutes Geld verdient man woanders.

Ein paar Ausnahmen gibt es, allen voran Siemens sowie Bombardier in Görlitz. Beide zahlen über dem ostsächsischen Durchschnitt; beide sind große Arbeitgeber: Bombardier hatte inklusive vieler Leiharbeiter zeitweise fast 2000 Beschäftigte. Beide haben Tradition: Im einen Werk begann man 1906 mit der Produktion von Dampfturbinen, im anderen sogar schon 1849 mit der Herstellung von Bahnwaggons. Und beide arbeiten heute zwar in modernen Hallen, aber direkt neben imposanten Fabrikgebäuden aus der Gründerzeit - mitten in der Stadt. Sie sind die wichtigsten »Anker« der lokalen Wirtschaft, sagt Wittig: Betriebe, von deren guten Gehältern auch viele Händler, Wirte oder das Theater profitieren - und deren Mitarbeiter für Weltläufigkeit in Görlitz und ein gutes Image der Stadt außerhalb sorgten. Gerade bei Siemens, sagt Wittig, kämen Ingenieure aus vielen Ländern für ein paar Jahre auch nach Görlitz. Viele seien erst skeptisch gewesen über die Versetzung in den »tiefen Osten« - und hätten dann nicht wieder weg gewollt aus der schönen Stadt.

Nun aber drohen beide Anker aus dem Grund gerissen zu werden. Zunächst hatte Bombardier einen massiven Jobabbau angekündigt; auch hier stand zeitweilig die Schließung des Görlitzer Werks zur Debatte. Davon ist, womöglich auch dank massiver Proteste, nicht mehr die Rede; die Ingenieure aus der Entwicklungsabteilung allerdings sind abgezogen, die Pläne für den Rest des Werks bleiben diffus. Und nun: Kahlschlag auch bei Siemens. Es droht, sagt Wittig, »die große Leere« in Görlitz. Im Wortsinn, weil das innerstädtische Werksgelände verwaisen könnte, aber auch im Seelenleben der Stadt: Wenn zwei so wichtige Betriebe verschwinden, »dann macht das etwas mit der Psyche«.

Mancher hält derlei Befürchtungen für überzogen. »Man darf nicht dramatisieren«, sagt Joachim Ragnitz vom Dresdner ifo-Institut für Wirtschaftsförderung. Der Verlust von 900 Jobs sei für eine Stadt wie Görlitz mit ihren 55 000 Einwohnern zwar eine »erhebliche Belastung«, räumt er ein. Die Siemens-Beschäftigten seien aber hoch qualifiziert, der Fachkräftemangel auch im Osten Sachsens inzwischen erheblich. Die Leute würden woanders unterkommen - was auch den Kaufkraftverlust und die befürchteten Mindereinnahmen bei der Steuer »abfedern« würde.

Dana Dubil teilt den nüchternen Pragmatismus des Wirtschaftsforschers nicht. Sie verweist darauf, dass verfügbare Arbeitsplätze oft schlechter bezahlt sind und die Arbeitsagentur viele Jobs nur auf Leiharbeitsbasis anbietet, und sie fürchtet, dass vor allem die Jüngeren abwandern, so wie es in der Lausitz schon nach 1990 Alltag war. Sie müssen vielleicht nicht mehr bis nach Bayern, sondern »nur« nach Dresden ziehen. Der Aderlass aber geht weiter. Zurück bleiben Menschen, die »einen weiteren großen Dämpfer« einstecken müssen, nur dass jetzt nicht die Privatisierungspolitik der Treuhand schuld ist, sondern Energiewende und Globalisierung.

Es wäre eine Entwicklung, die auch politisch brisant ist, sagt Dubil. Schon jetzt hat in Ostsachsen die AfD viel Zulauf; sie errang bei der Bundestagswahl beide Direktmandate in der Region und fuhr mancherorts über 40 Prozent ein. Wenn sich noch mehr Menschen als ohnmächtige Opfer von Konzernlenkern empfänden und die Politik mit ihrem erklärten Anspruch daran scheitere, das Werk zu retten, »wird das die Verbitterung verstärken«, sagt die DGB-Chefin. »Die Gefahr besteht, dass dann noch mehr Menschen einfachen politischen Losungen hinterher laufen.«

Noch freilich ist das Werk nicht geschlossen. Noch hofft man in Görlitz, dass selbst der Beschluss dazu nicht endgültig ist. Vielleicht, sagt Eva Wittig, könne man alles noch »zum Guten wenden« - und sei es auch um den Preis größeren Stellenabbaus. Wenn das Werk geschrumpft werde, könne man immerhin noch hoffen, dass es auch wieder aufwärts gehe. »Was aber einmal weg ist«, sagt die Wirtschaftsfördererin, »das ist weg«

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