Aus dem Finsteren strahlt das Licht

Monteverdis »Selva morale e spirituale« und »Adoramus te« in der Philharmonie

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Nr. 7 »Gloria« mit sieben Stimmen und Instrumenten. Dreiteilige Sequenz aus dem katholischen »Ordinarium missae«. Das komplette Ensemble hebt an. »Ehre sei Gott in der Höh« repetiert es jugendlich, forsch, bildkräftig und schließt locker modulierend mit »Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind«. Kraft der subtilen Energien des Ensembles sofort bemerkbar: bei Monteverdi ist aller Staub weggewischt, hier waltet kein Zwang strenger Gesetze, hier hallt selbst die Spielfreude auf den Gassen und Barkassen Venedigs nach.

Deutlicher noch in der Nr. 5 nach einem Text des berühmten Francesco Petrarca, der die Berge liebte und starken Auges den Nebeln trotze. Freier Geist durchweht den Text. Drei Männer mit stimmlich kapitalem Ambitus singen sich durch die Register, als wären sie schon droben. »Der Tod bringt Schrecken« entfährt es ihnen einzeln wie zusammen. Heftige Stimmungswechsel, Tempo- und Taktwechsel charakterisieren diesen Abschnitt aus »Selva morale e spirituale«, der neben »Adoramus te« für sechs Stimmen an diesem Abend in der Philharmonie in Teilen zu Gehör kam.

Kennt jemand das Ensemble »Les Arts Florissants«? Ein Wahnsinnsensemble. Musiziert es, spitzen sich die Ohren, als würden sie von saftigen Feigen gespeist. Es stimmt einfach alles. Die Einsätze ohnehin, der bisweilen vertrackte, rasche Wechselgesang des Monteverdi als Kapellmeister des Markusdoms in Venedig, die renaissancegesättigten Koloraturen, die Fülle der Polyphonie, das venezianisch kantable Element, die Atemfreude jedes Tons und Satzes, die Kletterpartien des Ausdrucks, die dargestellte Liebkosung des Herrn und die Ehrfurcht vor ihm, der eingesogene und besungene Geist der Epoche. Geistliche Musik von Monteverdi, katholisch inspirierte wie frei spirituelle, kam zur Aufführung.

»Les Arts Florissants« stammt aus Frankreich. Seit 1979 existiert das Ensemble. Sein Gründer: William Christie, gebürtiger US-Amerikaner, der sich früh in Frankreich niederließ. Einige Hundert Mitwirkende dürfte es seither beschäftigt haben. Der Wechsel der Generationen klappt. Christie hat heute ausschließlich junge Leute vor sich, an dem Berliner Abend sechs Männer-, zwei Frauenstimmen, zwei Violinen, zwei Celli, ein Bass (zwischen den Knien gespielt), Theorbe, Harfe, Tasteninstrumente. Christie wirkt wie ein Opa in dem Kreis. Aber ein toller. Der Weißhaarige reagiert wie ein junges Reh, zieht und drückt Register wie aus der Pistole geschossen, während er an Orgelpositiv und Cembalo spielt und dirigiert.

Leidet ein Dirigent mit, wenn die Gläubigen in der Erzählung bangen um das Wohl ihres Herrn? Keineswegs. Allenfalls begleitet er derlei gestisch und rollt mit Augen und Lippen wie die Ihren vor ihm. So auch der Grand Old Man von »Les Arts Florissants«. Er muss wie sein Ensemble ausgeschlafen, besonnen, scharfäugig, konzentriert, freundlich, energisch, selbstsicher sein, will er mit ihm höchstmögliche Wirkungen erzielen. Bei der Wiedergabe muss jede Note, jede Phrase vokal wie instrumental nicht nur stimmen, sondern dem spielfreudigen Ganzen sich sinnvoll einfügen. So sah es Monteverdi vor, und so gehört es auf die Bühne. Geht das alles überhaupt in einem Zuge? Solche wie Christie sind Genies, deren Buch man nicht aufschlagen kann wie das eines berühmten Schriftstellers, um darin zu lesen. Sie sind Genies der Rätsel, Bücher mit sieben Siegeln, aussichtslos, sie zu knacken.

Ja, die ganze Farbigkeit der Epoche um 1600 sprach in den Monteverdi-Wiedergaben aus. Die ganze. Musik kann Welt phantastisch aufnehmen, sie verrücken und kreisen lassen, ihr Unteres nach oben kehren und wieder zurück, den Puls des Globus fühlen, in sein Innerstes dringen und wieder heraus, das zeigen, was an der Welt grausam und trostlos ist, ihre Gebrechen von sich stoßen, sie aber auch in ihrer ganzen Freudigkeit willkommen heißen. Keine bessere als die Musik Monteverdis in seiner Zeit steht hierfür.

Die Nr. 40 aus »Selva morale« singt eine der beiden Sopranistinnen. Weit ausgreifend das Lamento der Arianna aus einem anonymen neu-lateinischen Text. Die Liebe darin gilt Jesus und mit ihm allen in der Welt. »Sieh mich an, mein Jesus.« Das vokalisierende Subjekt will ihn erreichen, was schwer ist und darum neue Kräfte entfaltet. Es will sich ein Bild machen, was bestimmte religiöse Riten verbieten. Aber es lässt trotz grausamer Schranken nicht locker, die Sängerin ringt nach Atem, setzt Pausen, schraubt sich allmählich in Ekstase. Und als ihr Gefühl meint, ihn zu besitzen, verstummt sie.

Restlos weltlich das kontrastierende »Madrigale morale« (Nr. 3) nach Don Angelo Grillo, in dem vier Männer und eine Frau ihre nicht ungetrübten Freuden aus dem Herzen singen. Grandios das Schluss-Stück, die Nr. 17 »Beatus vir«, die nach vielerlei Besetzungswechseln alle wieder zusammenführt. Die Nachkommen des Herrn würden mächtig im Land. Das Gloria darauf verkörpert die reine Feier des Neuentwurfs der Menschen. Aus dem Finsteren strahlt Licht.

Mehrere Zugaben erklangen, eine so klar und schön wie die andere. Ein beglückender Abend.

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