Wie ich den Katalanischen Verfassungsprozess sehe

Ich bin nie in irgendeinem Nationalgefühl erzogen worden, sagt Sergi Belbel, der sich für eine unabhängige Katalanische Republik ausspricht.

  • Sergi Belbel
  • Lesedauer: 4 Min.

Das grundlegende Problem des sogenannten Katalanischen Verfassungsprozesses besteht darin, dass er gerade in ganzer Breite die »nationalistische« Etappe überwunden hat. Ich selbst bin aus einem einfachen Grund nie ein katalanischer Nationalist gewesen: Meine Eltern waren keine Katalanen, sondern stammten aus dem Süden Spaniens. Ich bin nie in irgendeinem Nationalgefühl erzogen worden. Wenn ich heute überzeugt bin, dass Katalonien aus vielen kulturellen, historischen, wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Gründen eine Republik sein soll, ein unabhängiger Staat, dann hat das nichts zu tun mit den herkömmlichen nationalen Prozessen, die im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts abliefen. Dem Katalanischen Prozess das Etikett »nationalistisch« anzuheften oder gar, wie einige Leute sich zu sagen getrauen, »nazistisch«, kann nur von Unwissenheit oder bösartiger Unterstellung herrühren.

Der Katalanische Prozess wurde im entscheidenden Maße von Kataloniens Zivilgesellschaft vorangebracht, von den Leuten, nicht den Politikern. Die katalanische Gesellschaft ist sehr komplex, voller Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und alle gesellschaftlichen Schichten umfassend, von der Bourgeoisie bis zum einfachen Volk.

Die Unabhängigkeitsbewegung wird durch folgende Hauptelemente definiert: Verteidigung der offenen, kosmopolitischen katalanischen Kultur, Verteidigung der laizistischen Erziehung auf Katalanisch, Ablehnung des spanischen monarchistischen Systems, Forderung nach einer Republik und nach einem Ende der Privilegien des »oligarchischen Clans«, des sogenannten Clubs des IBEX-35, der 35 wichtigsten spanischen Großunternehmen, die den Kuchen der Wirtschaft unter sich aufteilen.

Es ist eine absolut demokratische und friedliche Bewegung, ohne jeden Exklusivanspruch. An ihr nehmen Menschen aus allen Schichten und vielen Ländern teil, Arbeiter, Angestellte, Studenten, Menschen aus Stadt und Land, Katalanen aus der ganzen Welt.

Sie richtet sich gegen Grenzen und Schranken aller Art, gegen Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Hautfarbe, der Ethnie, ja selbst der Sprache. Es gibt viele in unserer Bewegung, die Spanisch sprechen. Es ist eine antifaschistische, offene Bewegung, die die Eliten und die wirtschaftlich Mächtigen beunruhigt und verstört.

Machtlobbys, Hochfinanz und Großunternehmer sind geschlossen gegen uns. Es sind diese wirtschaftlich Mächtigen, die die wichtigsten spanischen Massenmedien darauf eingeschworen haben, einen Propagandafeldzug gegen die Unabhängigkeit Kataloniens zu führen. Alle spanischen TV-Sender, angefangen beim öffentlich-rechtlichen TVE über den privaten T5 bis hin zum Atresmedia-Konzern, dazu die Zeitungen »El País«, »El Mundo«, »ABC«, »La Razón«, »La Vanguardia«, »El Periódico« etc., sie alle haben dem Katalanischen Verfassungsprozess den Medienkrieg erklärt - einschließlich der katalanischen Großbourgeoisie, die schon zu Zeiten der Franco-Diktatur mit den spanischen Eliten paktierte. Deshalb stellt der Katalanische Prozess auch eine Gefahr für das Europa von Merkel, Macron, Junker und Tusk dar.

Er ist eine Volksrevolution, die nichts mit einem Nationalismus zu tun hat, wie er uns unterstellt wird. Das völlige Gegenteil ist der Fall. Wir wollen Selbstverwaltung. Wir wollen ein unabhängiges Land sein. Frei. Nicht länger von einer Monarchie und einem politischen System abhängen, dem gegenwärtigen spanischen, das aus einer Diktatur hervorgegangen ist und nie vollständig demokratisch wurde.

Das spanische Justizwesen ist zum großen Teil, vor allem in seinen höheren Instanzen, direktes Erbe der Franco-Diktatur. Es sei daran erinnert, dass der Katalanische Prozess erst einsetzte, nachdem 2010 zwölf Mitglieder des spanischen Verfassungsgerichts ein Gesetz kassierten, das vom katalanischen und spanischen Parlament sowie per Referendum vom katalanischen Volk gebilligt worden war.

Zwölf Richter, viele von ihnen mit deutlich reaktionärer Ideologie, dürfen den Willen von Parlament und Volk zunichte machen? Etliche politische Beobachter sahen in dieser Entscheidung einen wahren Staatsstreich gegen die spanische Demokratie. Den Staatsstreich verübten diese Verfassungsrichter.

Abgesehen davon sind es viele Katalanen leid, Teil eines Staates zu sein, der die katalanische Kultur, die katalanische Geschichte und die katalanische Sprache verachtet und ignoriert.

Wir haben absolut nichts gegen die spanische Kultur und nichts gegen das spanische Volk. Im Gegenteil. Wir lieben diese Kultur. Viele von uns sind aus ihr hervorgegangen. Doch wir fühlen uns als Katalanen, mit dem Willen, etwas Neues aufzubauen. Unsere Wurzeln sind spanisch, doch unser Traum ist es, eine erneuerte, für die Benachteiligten gerechtere, ausgewogenere und angemessenere Gesellschaft zu schaffen, in der die Gesundheit, die Erziehung, die Kultur und die Menschenrechte bewahrt und beschützt werden. Kurz, wir wollen ein freieres Land.

Übersetzung: Klaus Laabs

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