Kind von Bord

Angsthasen IV

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 2 Min.

Angst hemmt: Wer zu viel fürchtet, wagt nichts. Aber Angst schützt auch: Wer nicht ins Flugzeug steigt, stürzt nicht ab. Wer die Dunkelheit meidet, wird nicht in finsteren Winkeln überfallen. Wer nicht waghalsig hoch steigt, kann nicht abgrundtief fallen.

Eine spezielle Form der Angst ist die Angst von Eltern um ihre Kinder. Sie kann Auswüchse bilden, die sich um den Nachwuchs schlingen wie wuchernde Wurzeln. Eine der größten Herausforderungen des Elternseins ist es zu lernen, solche Fesseln zu lösen - ohne sie ganz aus der Hand zu geben. Die angeborenen Ängste des Kindes (vor dem Alleinsein, vor der Dunkelheit oder dem Fallen) können diesen Prozess erleichtern: Ein Kind, das Gefahren scheut, muss nicht erst davor bewahrt werden.

Mein Sohn kennt solche Ängste nicht. Schon als Kleinkind setzte er sich jedem Risiko bedenkenlos aus. Keine väterliche Warnung konnte ihn davon abhalten, in schwindelerregenden Höhen zu balancieren, kein mütterlicher Hilferuf daran hindern, sich blindlings in Gewässer gleich welcher Tiefe zu stürzen. Wenn ich es nicht besser wüsste, müsste ich an die Anwesenheit eines Schutzengels glauben, um mir zu erklären, dass er all seine Unfälle nahezu unbeschadet überstanden hat.

Obwohl mein Sohn eher unsportlich ist, glänzt er heute als überaus passabler Schwimmer und als bewundernswert sicherer Bergsteiger. Ich weiß, dass er den ungebremsten Spaß und die überdurchschnittlichen Leistungen in diesen Disziplinen seiner Abwesenheit von Ängsten verdankt. Doch dieses Wissen ändert nichts daran: Meine größte Furcht gilt seiner Furchtlosigkeit. Martin Hatzius

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