Lebende Bilder

Im Kino: »Loving Vincent« von Dorota Kobiela und Hugh Welchman - eine filmische Reise in die Gemäldewelt van Goghs

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Alle lieben Vincent van Gogh. Das war nicht immer so. Als er lebte, siebenunddreißig Jahre lang, liebte man ihn überhaupt nicht. Weder den Menschen, den man schrecklich fand (ein Verrückter!), noch seine Bilder, die auf seine Umgebung wie der Spiegel dieses Wahnsinns wirkten. Schon seltsam, wenn die Liebe zu jemandem erfordert, dass er selbst nicht mehr anwesend ist.

Ungebildete Menschen? Nein, die van Goghs waren eine Familie, die erfolgreich mit Kunst handelte. Sein Bruder Theo wurde Kunsthändler, er selbst hatte als Sechzehnjähriger eine Kunsthändlerlehre begonnen - und sie wieder abgebrochen. Er konnte nicht verhandeln, er konnte nicht verkaufen, was er liebte. Sein Vater war Pfarrer, einer, der es weniger mit den Menschen als mit den Dogmen hielt, seine Mutter liebte einen anderen Vincent - seinen gleichnamigen älteren Bruder, den erstgeborenen Vincent, der kurz nach seiner Geburt starb. Vincent van Gogh war in der Familie immer der zweite Vincent, Ersatz für den eigentlichen Vincent, der gestorben war. Er versuchte Pfarrer zu werden wie sein Vater, las viel (kaum ein Maler war so belesen wie er), aber auf das Labyrinth der Theologie mochte er sich nicht einlassen. Im Fiasko endete auch sein Versuch, Lehrer zu sein. Man wollte einen groben Pauker, aber keinen, der sich in die Kinderseele einfühlte.

Also landete er als Prediger in der Borinage, einem belgischen Bergbaugebiet, in dem ein heute unvorstellbares Elend herrschte. Die Menschen akzeptierten ihn, weil er nichts für sich wollte, das Evangelium lebte. Doch als er schließlich Kircheneigentum an notleidende Menschen verschenkte, wurde er selbst aus dieser niederen Funktion entlassen. In den Augen der bürgerlichen Welt war er nun vollständig gescheitert.

Von da an perfektionierte er sein Malen, arbeitete wie ein Besessener. In den ihm noch verbleibenden zehn Lebensjahren schaffte er, zwischen Höhenflügen und Abstürzen, ein Werk, das fast tausend Gemälde umfasst, von denen heute jedes einzelne Millionen wert ist. Ein Leben, das man immer wieder erzählen sollte, auch weil es die Absurditäten unserer Verkaufs-Gesellschaft bloßstellt, gegen die Vincent van Gogh rebellierte - und der er am Ende doch unterlag.

»Loving Vincent« ist ein mutiges und zudem überaus aufwendiges Experiment. Ein gemalter Film, der nicht nur in der Bilderwelt Vincent van Goghs spielt, sondern auch die Schauspieler in Figuren aus Bildern van Goghs rückverwandelt. So beginnt die Bilderwelt, die Vincent van Gogh schuf und in der er sich bis zu seinem Tod in Auvers 1890 bewegte, auf merkwürdige Weise zu leben. Das ist ein bisschen wie »Nachts im Museum«, aber durchaus ambitioniert auf der Suche nach der Wahrheit über van Goghs Leben und seinen plötzlichen Tod, der bis heute Fragen aufwirft.

Einen Satz van Goghs umkreisen die beiden Filmemacher Dorota Kobiela und Hugh Welchman: »Und in der Tat können wir nicht anders, als durch unsere Gemälde zu sprechen.« So sehen wir dann Armand (Douglas Booth), den Sohn des von van Gogh häufig gemalten Postmeisters Joseph Roulin, wie er, ein Jahr nach dem Tod Vincents, von seinem Vater den Auftrag erhält, einen aufgetauchten Brief van Goghs an dessen Bruder zu überbringen. Aber Theo ist kurz nach dem Tod Vincents verrückt geworden und in einer Anstalt gestorben.

So beginnt eine filmische Reise in die Gemäldewelt van Goghs, in der seine Figuren über ihn sprechen, vom Pariser Farbenhändler Tanguy bis zum ominösen Doktor Gachet in Auvers, der ebenfalls malte und von dem van Gogh sagte, er bedürfe ebenso dringend Hilfe wie er selbst. Wir hören und sehen berühmte Figuren aus van Goghs Bildern: Ikonen der modernen Kunst. Aber in ihnen stecken hier Schauspieler, denn es ist nur zur Hälfte ein Animationsfilm.

Die Orte und Landschaften, durch die Armand reist, wurden für diesen Film nach van Goghs Vorbild gemalt. Manche sind originalgetreue Kopien, manche auch Nachempfindungen anhand einzelner authentischer Details. Für diese sogenannte »Ölgemälde-Animationstechnik« wurden 125 Maler beschäftigt, den Film zu malen, was mehr meint, als eine Kulisse zu schaffen. Denn auch die Schauspieler wurden im Nachhinein wieder »übermalt«. Am Ende baute man dann in den Studios in London und Wrocław mittels Computertechnik insgesamt 65 000 Einzelbilder zusammen, und heraus kam eine bislang ungekannte Form von Bilderkosmos, der zu leben und zu handeln beginnt. Erfunden ist dabei nichts, jedoch auf ungewöhnliche Weise montiert.

Ist das nun eine besonders avantgardistische Form des Umgangs mit Gemälden und einer Spielfilmhandlung, die beides mittels Handwerk und Hightech zur Symbiose führt, oder doch eher etwas, das in die Rubrik Kitsch fällt? Wird hier van Goghs Bilderwelt vollends nutzbar gemacht für eigene Zwecke? Ist das vielleicht bloß eine besonders schamlose Form der Verwertung von etwas Einmaligem, dessen Gestus der Echtheit man nachahmt?

Man kann es, wenn man sehr puristisch ist, als ein Stück Film-Design sehen. Aber ich fände das van Gogh gegenüber nicht angemessen. Er war Autodidakt, der im letzten Drittel seines Lebens aus einem starken inneren Antrieb heraus eine Unmenge Bilder schuf. Ihm ging es um eine Kunst, die zu einer anderen Art von Leben führt. So gesehen darf man ihn also für eigene Projekte verwenden, wenn man nicht bloß auf schnellen Gewinn aus ist. Und das scheint bei »Loving Vincent« nicht der Fall. Dem polnischen Kameramann Łukasz Żal, der bereits mit »Ida« für einen Oscar nominiert wurde, gelingt es, die wechselnden Atmosphären auf großartige Weise einzufangen. Denn Vincent van Goghs Bilder sind vor allem Licht-Symphonien zwischen Tag und Nacht, zwischen Sonne, Mond und Gaslaterne.

Weil man jedoch keinen Film-Essay über Leben und Werk drehen wollte, entschieden sich die Filmemacher dafür, Armand vor das Rätsel zu stellen: Wie starb van Gogh? Als er abends vom Malen in die Pension Ravoux in Auvers zurückwankte, die Hand an den blutenden Bauch gepresst, antwortete er auf Fragen, er habe sich zu erschießen versucht. Der gerufene Doktor Gachet, mit dem sich van Gogh wegen dessen Tochter Marguerite zerstrittenen hatte, weigert sich jedoch, den Versuch zu unternehmen, die Kugel zu entfernen. Die Wunde entzündete sich, und zwei Tage später starb Vincent van Gogh unter Qualen.

Ein versuchter Selbstmord mittels Schuss in den Bauch? Oder war auf ihn, den verrückten Maler, geschossen worden? Es gibt im Nachhinein Indizien für vieles, will man den Detektiv spielen - doch die Welt der Bilder bleibt davon unberührt. Antonin Artaud hat es in »Der Selbstmörder durch die Gesellschaft« sehr viel drastischer ausgedrückt, als es dieser Film vermag: »Von van Goghs Nagel aufgekratzt, zeigen die Landschaften ihr feindseliges Fleisch, die Bissigkeit der aufgeschlitzten geheimen Winkel, dass man andererseits nicht weiß, welch seltsame Kraft gerade dabei ist, sich zu verwandeln.«

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