»Die soziale Frage muss wieder in den Vordergrund rücken«

Ein Gespräch mit dem Theaterregisseur Thomas Ostermeier über das Jahr 2017 aus linker Sicht

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 14 Min.
Herr Ostermeier, die Linken in Deutschland haben sich 2017 so heftig gestritten wie lange nicht mehr. Die einen wollen die soziale Frage wieder zu einem linken Kernanliegen machen, damit die AfD nicht stärker wird. Die anderen finden, dass auf keinen Fall weniger oder anders als bisher für Minderheitenrechte gekämpft werden dürfe, damit die AfD nicht stärker wird. Auf welcher Seite stehen Sie?

Ich sehe das nicht als Gegensatz. Wir müssen doch die Minderheitenrechte nicht zurückstellen, wenn wir die soziale Frage betonen. Man kann doch ein aufgeklärter, progressiv denkender und tolerant agierender Mensch sein und trotzdem sagen: Toleranz muss man sich leisten können. Und wenn wir die drängenden sozialen Fragen nicht beantwortet bekommen, dann müssen wir damit rechnen, dass die Benachteiligten intolerant agieren.

Thomas Ostermeier

Thomas Ostermeier ist einer der bekanntesten europäischen Theater-Macher. Kein deutscher Regisseur ist auf den internationalen Bühnen erfolgreicher. Seine großen Ibsen-Inszenierungen und sein »Hamlet« mit Lars Eidinger in der Titelrolle touren durch alle Kontinente. Seit 1999 ist er Künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne.

1968 wurde Ostermeier in Soltau geboren, er wuchs aber im niederbayerischen Landshut auf. Zwischen 1992 und 1996 studierte er Regie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin. Nach Zusammenarbeit etwa mit Einar Schleef und Manfred Karge leitete Ostermeier von 1996 bis 1999 die Baracke am Deutschen Theater Berlin. Dort gelangen ihm legendäre Arbeiten wie »Messer in Hennen« von David Harrower, »Mann ist Mann« von Bertolt Brecht und »Shoppen & Ficken« von Mark Ravenhill. Mit dem 49-Jährigen sprach nd-Redakteur Christian Baron in der Schaubühne.

Foto: Brigitte Lacombe

Genau diesen Punkt sehen viele nicht. Großstadtlinke aus dem Akademikermilieu erwarten bedingungslosen Kosmopolitismus von denjenigen, mit denen es die Globalisierung weniger gut gemeint hat.
Wir müssen alles dafür tun, dass die Themenfelder nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es kommt darauf an, beides zu verknüpfen. Warum sind denn so viele Menschen nicht mehr weltoffen? Warum sind einige skeptisch gegenüber Minderheiten? Wer diese Fragen stellt, landet automatisch bei der sozialen Frage. Es gibt Leute in Deutschland, die klagen: Ich muss jedes Jahr für meine Kinder neue Winterschuhe beantragen oder um Beihilfe betteln, damit ich Schulbücher kaufen kann. Gleichzeitig werde ich durch die Gentrifizierung aus der Stadt gedrängt. Ein guter Freund von mir, der als Handwerker Messe-Stände aufbaut und alleinerziehender Vater von zwei Kindern ist, wurde vom Amt in eine Wohnung nach Fürstenwalde vermittelt, weil es in Berlin nichts Bezahlbares mehr für ihn gab. Da wird die soziale Frage ganz real. Das sind aber gleichzeitig Leute, die jahrelang angelogen wurden. Denen hat man jahrelang gesagt: »Die Kassen sind leer, es ist kein Geld mehr da.« Und jetzt sehen sie, wie im Rahmen der Flüchtlingspolitik sehr viel Geld ausgegeben wird. Was ich aus meiner privilegierten Position heraus natürlich absolut verteidige, aber trotzdem kann ich verstehen, wenn die Benachteiligen das als Widerspruch wahrnehmen.

Wenn Sie so argumentieren, dann werden Ihnen viele Linke vorwerfen, diese Art von Verständnis für die »Abgehängten« spiele den Rechtspopulisten in die Hände.
Diese Linken müssten sagen, was die AfD nicht sagt: Es ist Geld da! Die acht reichsten Individuen besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Erdbevölkerung. In Deutschland hat die soziale Ungleichheit wieder Ausmaße angenommen wie vor 100 Jahren. Dabei ist in dieser Gesellschaft ein enormer Reichtum vorhanden. Wäre der gerecht verteilt, dann müsste es unter Einheimischen keine Armut geben, und es könnten trotzdem noch viel mehr Flüchtlinge aufgenommen und menschenwürdig versorgt werden. Wer da nicht mit der sozialen Frage argumentiert, der schafft Rassismus.

Da erwähnen Sie ein weiteres Stichwort. Als Rassisten werden derzeit oft Linke wie Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht beschimpft, die bei der Analyse der Flüchtlingspolitik die politische Ökonomie ebenso berücksichtigen wie Sie. Sind Sie also ein Rassist?
Dieses Auseinanderdividieren halte ich für falsch. Wir sind doch politisch und rhetorisch begabt genug, um das verbinden zu können. Die soziale Frage muss unbedingt wieder in den Vordergrund rücken, wir müssen mehr über Reichtumsverteilung, Postkolonialismus und Armut reden. Denn auch hier gibt es Zusammenhänge: Die einen leiden unter der Zerstörung des Sozialstaats in Europa. Den anderen fallen in ihrer Heimat die Bomben auf den Kopf, die bei uns produziert werden und die ihnen keine andere Möglichkeit lassen, als zu fliehen. Die, denen es in ihren Ländern wirklich dreckig geht, die können ja leider gar nicht aufbrechen.

Sie haben das alles auch auf der Bühne verhandelt. Mit »Rückkehr nach Reims« von Didier Eribon inszenierten Sie das im vergangenen und in diesem Jahr unter Linken meistdiskutierte Buch. Darin beschreibt der Autor seinen sozialen Aufstieg vom Kind der französischen Unterschicht bis zum angesehenen Universitätsprofessor. Und er kritisiert das Versagen der Linken angesichts des Aufstiegs der Rechten. In der jüngeren Vergangenheit waren unter Ihrer Regie meist Klassiker oder zeitgenössische Dramatik zu sehen. Was hat ein soziologisches Sachbuch im Theater verloren?
Eigentlich war diese Arbeit ein Experiment. Bei »Hamlet« mit Lars Eidinger oder »Professor Bernhardi« mit Jörg Hartmann kann man sich vorher denken, dass das beim Publikum für Interesse sorgt. Im Falle von Didier Eribon war es anders. Nina Hoss war 2016 in New York und drehte die Serie »Homeland«. Wir waren da bereits für ein anderes Projekt an der Schaubühne verabredet. Nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im November sprachen wir viel über die Ereignisse. Viele Ostküstenintellektuelle sahen dieses Wahlergebnis als persönlichen Angriff im Sinne von: »Wie konnten die uns das nur antun?« Das erschien Nina viel zu einfach. Sie antwortete ihnen: »Guckt euch doch mal an!« Im Gespräch fiel mir dann ein, dass ich kurz zuvor auf »Rückkehr nach Reims« gestoßen war. Nachdem auch Nina es gelesen hatte, war klar, dass wir als nächstes keinen Klassiker aufführen wollen. Ich hatte da auch schon eine Idee, wie wir Eribons stellenweise sehr abstraktes Buch in dieses ganz andere Medium übersetzen konnten.

Sie haben Eribon für das Projekt gewonnen und sind mit ihm tatsächlich nach Reims zurückgekehrt. Das Rohmaterial des daraus entstandenen Films bildet die erste Ebene der Inszenierung. Nina Hoss spielt eine Schauspielerin, die den Off-Kommentar für den Dokumentarfilm in einem Tonstudio einspricht.
Ja, und dabei entwickelt sich eine Debatte mit ihrem Regisseur, den Hans-Jochen Wagner spielt. Die Dialoge haben Nina und ich selber entwickelt. Wie funktioniert der Kapitalismus heute? Warum sind die Rechten so stark? Wie können wir daran etwas ändern?

Das deutsche Medienecho fiel jedenfalls nicht nur positiv aus. In der »taz« nannte zum Beispiel ein Kritiker die Buchvorlage und die Bühnenfassung lapidar »mittelschichtig-mitgefühlige Projektionen auf einen Zustand, den am ehesten zu lindern nicht in den Händen der kulturdeutenden Kreise liegen kann«.
Die Kritiken waren zum Teil sehr positiv, aber auch negativ wie in dem von Ihnen zitierten Artikel aus der »taz«. Aber ich will mit meinem Theater ja auch kein Leid lindern. Ich will zuerst einmal verstehen. Und ich will mit meiner Arbeit auch mich selber verstehen. Nicht in dem pathetischen Sinne, dass ich als Künstler meine Neurosen verarbeite. Es geht um meine Stellung in dieser Gesellschaft - und damit auch um Strukturen und Mechanismen, die walten. Ich habe das große Glück, dass das, was ich im Probenraum treibe, oft auch viele andere Leute interessiert.

Dennoch: Den wunden Punkt, den der Kritiker der »taz« trifft, benennt Eribon selbst. Diese Stelle kommt auch in Ihrem Film vor: »Interesse für Kunst oder Literatur hat stets, ob bewusst oder unbewusst, auch damit zu tun, dass man das Selbst aufwertet, indem man sich von jenen abgrenzt, die keinen Zugang zu solchen Dingen haben.« Inwiefern kann das linksliberale, hochgebildete Publikum der Schaubühne denn überhaupt verstehen, was Eribon beschreibt?
Neulich sprach ich mit einem Journalisten von der »Zeit«. Dabei erwähnte ich, dass ich gerade Horváths »Italienische Nacht« probe, und da sagte er: »Ach ja, da bestätigt sich das weltoffene Bürgertum mal wieder gegenseitig, auf der richtigen Seite zu stehen.« Das stimmt leider nicht ganz. Auch in der Schaubühne sitzen Leute, die mit der Neuen Rechten liebäugeln. Wir hatten mal eine Podiumsdiskussion im Zusammenhang mit Falk Richters Inszenierung »Fear«, die Berliner AfD-Politiker und eine katholische Publizistin gerichtlich verbieten lassen wollten. Nach der Debatte kam ein Zuschauer zu mir und sagte: »Ladet die doch mal ein! Ihr müsst mit denen diskutieren«! Und er hat klar gemacht, dass er die Rechten nicht auf diese Weise entzaubern, sondern ihnen ein Forum bieten möchte.

Was spricht dagegen, auch im Theater mit den Rechten zu reden?
Ihr strategisches Ziel besteht darin, den linksliberalen Konsens zu brechen, die Grenzen des Sagbaren immer weiter nach rechts zu verschieben. Gerade in den Kultureinrichtungen. Dort auch nur auftreten zu dürfen, das wäre ein erster Gewinn. Ich würde jederzeit mit Rechten reden, nur nicht in der Öffentlichkeit. Da ist die Gefahr viel zu groß, dass es nicht darum geht, Argumente auszutauschen, sondern dass es ihnen darum geht, Räume zu erobern, die bisher einem bürgerlich denkenden Spektrum vorbehalten waren. Dass die Rechten solch einen Erfolg haben, hängt doch auch damit zusammen, dass sich die Diskurse bereits verschoben haben. Das fing mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland an, als plötzlich ernsthaft eine Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Nationalismus salonfähig wurde. Die Gesellschaft ist nicht nur durch die soziale Verschärfung auseinandergedriftet, es gibt auch einen Kulturkampf.

Es mag sein, dass manchmal Rechte den Weg zur Schaubühne finden. Die »Abgehängten« und Nichtwähler aber lesen keine akademischen Fachbücher, und sie gehen auch eher selten ins Theater. Wie wollen Sie diese Menschen erreichen?
Es geht uns nicht darum, ob die Arbeiterklasse im Parkett der Schaubühne sitzt. Einflussreich in Politik und Gesellschaft sind diejenigen, die sich entschieden haben, als Sozialdemokratie nicht mehr den historischen Auftrag auszuführen, der im Kampf für die Unterprivilegierten besteht. Das ist unser Thema und es ist auch das Thema von Didier Eribon. Diese Leute sind aktiv daran beteiligt, was gerade passiert. Die müssen gar nicht AfD wählen, um die Rechten zu bestärken. Ihre neoliberale Politik reicht da völlig aus.

Sie sind im Theaterbetrieb selbst ein Exot, denn Sie entstammen einem kleinbürgerlichen Elternhaus, die Mutter war Verkäuferin und der Vater war Berufssoldat. Haben Sie den Eindruck, die gesellschaftlichen Verschiebungen mit diesem Hintergrund besser deuten zu können?
Das kann ich gar nicht so leicht beantworten. Mein Zugang zu denen, über die gerade viel geredet wird, ist sicher direkter und unmittelbarer. Ich hatte wie Eribon einen autoritären Vater. Aber viel von der Gewalt, die bei uns zu Hause herrschte, habe ich durch die Lektüre von Didier Eribon besser verstanden. Oder wie Eribon es schreibt: Der Stand in der Gesellschaft ist Ergebnis der sozialen Gewalt.

Haben Sie die Ankunft im neuen Milieu als Befreiung empfunden?
Mein erster Gedanke, nachdem ich das Buch von Eribon gelesen hatte, war: »Wow, ich bin nicht allein!« Er spricht einige Dinge an, die ich so nicht hätte ausdrücken können, die man aber spürt, wenn man in ein solches Milieu hineingeboren wurde und später sozial aufgestiegen ist. Solch eine Herkunft und solch ein Ankommen im Milieu der Akademiker bedeuten immer auch eine Form von Stress, weil man sich die Verhaltensnormen des gehobenen Bürgertums kaum antrainieren kann, wenn man sie nicht mit der Muttermilch eingesaugt hat. Wie Eribon kenne ich auch diese ständige Angst, entdeckt zu werden. Vor Jahren traf ich einmal auf den Kulturstaatssekretär der deutschen Bundesregierung. Ein sehr distinguierter Mann. Da raunte ihm jemand zu: »Pass auf, der Ostermeier ist ein Arrivist!« Es hat mich überrascht und schockiert, dass in diesem Milieu immer noch mit despektierlichen Begriffen hantiert wird und dass es dieses bündische Denken gibt.

Trotzdem sind Sie heute Künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne und ein international gefeierter Theaterregisseur. Da muss es neben den Mentoren an den richtigen Stellen des Lebensweges auch einen inneren Antrieb geben. Wo liegt der Ursprung dieses Drangs, der eigenen Herkunft zu entfliehen?
Meine Eltern wollten nicht, dass meine Brüder und ich das Gymnasium besuchen. Der Wunsch war, dass die drei Söhne früh Geld nach Hause bringen. Wir durften schließlich doch zum Gymnasium, weil die Grundschullehrer sich dafür eingesetzt haben. Aber unsere Eltern glaubten nicht daran, dass wir es bis zum Abitur schaffen würden. Wenn es zu Problemen kam in der Schule, dann saßen sie immer da und gaben den Lehrern recht. Es hat mich extrem verletzt, wie wenig Solidarität ich dabei durch meine Eltern erfahren habe. In ihrer Lebenswelt spielten die Unangepassten keine Rolle. Ihr großer Traum war, dass alle drei Söhne irgendwann Facharbeiter sein würden und keine Angst vor Arbeitslosigkeit oder Armut mehr haben müssten.

Gerade bei Berufsanfängern im Schauspiel oder in der Regie ist es üblich, dass zu Theaterpremieren die halbe Familie im Publikum sitzt. Wie war das bei Ihnen?
Darüber habe ich nach der Lektüre des Buches von Didier Eribon noch einmal ganz neu nachgedacht. Ich habe meine Mutter nie zu Premieren eingeladen. Auch nicht nach meinem Wechsel zur Schaubühne. Der Grund war meine Scham. Ich hatte Angst davor, dass jemand aus dem hochkulturellen Umfeld unwissentlich auf meine Mutter zeigen und rufen könnte: »Wer ist denn diese komische Frau?« Jetzt ist es leider zu spät, denn sie ist viel zu früh gestorben. Zwar hat sie sich alle Arbeiten von mir angesehen, aber sie war nie bei einer Premiere - obwohl es ihr großer Wunsch war. Immer habe ich sie davon abgehalten und ihr gesagt: »Bitte, bei so einer Premiere stehe ich unter enormer Anspannung, da habe ich so viele Verpflichtungen, da kann ich mich nicht noch um dich kümmern.« Ich war nicht souverän genug. Es hätte mir egal sein müssen, dass man meiner Mutter zeitlebens ihre soziale Verortung angesehen hat. Aber ich habe es einfach nicht hinbekommen.

Dafür haben Sie es hinbekommen, an der Schaubühne einen neuen Realismus zu etablieren, der Ihnen im deutschsprachigen Theater ein Alleinstellungsmerkmal garantiert. Denn die meisten Bühnenkünstler gehen heute von einer Prämisse aus, die Sie einmal als »Pseudodiskurs für rich kids« bezeichnet haben: Das Subjekt ist tot, wir können keine Geschichten mehr erzählen. Wie kommen Ihre Produktionen im Ausland an?
Wir sind überwiegend mit den Klassikern unterwegs. Ibsens »Volksfeind« ist an vielen Orten auf fruchtbaren Boden gefallen, ob in Minsk, Moskau, London, Istanbul oder Santiago de Chile. In Polen, das ja besonders stark vom Rechtsruck betroffen ist, hatten wir Krawall im Publikum erwartet. Nichts ist passiert. In New York dagegen dachten wir, da würden schon alle irgendwie einverstanden sein mit dem Triumphzug des Neoliberalismus. Dort gab es aber nach einer Aufführung das Bekenntnis eines ehemaligen Journalisten, der aufgewühlt erzählte, wie viele »gelenkte Artikel« es in seiner Zeit bei der »New York Times« gab und dass er da irgendwann nicht mehr mitmachen wollte. Als wir mit »Professor Bernhardi« in Paris gastierten, da sagten viele Leute: Das gibt es nicht in unserer Theaterkultur, dieses realistische Benennen aktueller Probleme. Bei »Rückkehr nach Reims« war es ähnlich. Da sagten mir französische Kollegen, in Frankreich würde sich kaum jemand trauen, die Front National so direkt im Theater zu verhandeln. Das ist einer der wichtigsten Gründe für unseren internationalen Erfolg: Wir arbeiten realistisch, wir machen Zeitstücke. Das gibt es so bestenfalls noch in der angelsächsischen Theaterkultur, aber eher in der verstaubten Variante.

Theater ist eben auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Immer wieder drängt der Zeitgeist auf die Bühne. Beim jüngsten Theatertreffen war unter anderem die Inszenierung des Wende-Romans »89/90« von Peter Richter eingeladen. Darin gibt es eine Szene, in der ein Neonazi sagt: »Ich geh mal einen Neger abseilen.« In den Leipziger Aufführungen fand daran niemand etwas Anstößiges. Bei der zweiten Aufführung in Berlin musste der Schauspieler dann jedoch sagen: »Ich geh mal einen N...BEEP abseilen.« Die Regisseurin Claudia Bauer war dagegen, sie musste sich aber der Festspielleitung um Thomas Oberender beugen. Haben Sie schon einmal von einem Neonazi gehört, der »N...BEEP« sagt?
Ich glaube nicht, dass Thomas Oberender das so wollte. Ich sehe ihn eher als Opfer der Ereignisse. Mit dieser Entscheidung hat er versucht, allen gerecht zu werden. Was ich durchaus verstehen kann. Ich beneide ihn nicht um so eine Situation, ich hätte mich vielleicht ähnlich unglücklich verhalten.

»Rückkehr nach Reims« hat sich, wie so viele Schaubühnen-Produktionen der vergangenen Jahre, ganz ohne solche Skandale zum Publikumsrenner entwickelt. Haben Sie jetzt Gefallen an explizit politischem Theater gefunden?
Ich werde auch weiterhin versuchen, die drängenden Themen mit klassischen Texten von William Shakespeare, Henrik Ibsen, Ödon von Horváth oder Arthur Schnitzler zu verhandeln. In den meisten Ländern der Welt ist das Publikum bei unseren Aufführungen erstaunt, wie zeitbezogen Schauspiel sein, wie viel es mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun haben kann. Ich werde in Zukunft aber auch häufiger Experimente wagen, wie ich es zuletzt mit »Rückkehr nach Reims« getan habe. Eines meiner nächsten Projekte wird »Im Herzen der Gewalt« von Édouard Louis, einem Schüler von Didier Eribon. Der ist ebenfalls ein sozialer Aufsteiger und schreibt in seinen Büchern unglaublich bewegend über seine Biografie. Auch hier hoffe ich, dass es mir gelingt, diese poetische Kraft des Faktischen auf die Bühne zu übertragen. Das Theater ist für mich kein Fluchtort, an dem ich des Lebens Unbill vergesse, sondern im besten Fall ist es Reflexion. Es geht um ein Nachdenken darüber, was das Leben ausmacht.

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