Die Übergangslösung hat seit Jahrzehnten Bestand

Das leicht reformierte EU-Mehrwertsteuersystem begünstigt weiterhin Betrügereien über Europas Grenzen hinweg

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 3 Min.

Ohne Kontrolle und Fahndungsdruck taugen selbst die besten Steuergesetze nichts. Dies beleuchtet ein Fall, der zunächst wenig mit der in Brüssel kürzlich beschlossenen Reform des europäischen Mehrwertsteuersystems zu tun hat: In Bulgarien hatten Kriminelle ein Virus auf Computer des Zolls installiert. Dies machte es möglich, Güter ins Land zu schmuggeln, ohne Zoll und Steuern zu entrichten. Eine Razzia brachte der Polizei neben Computern und Akten auch einen Schatz von über 200 000 Bitcoins ein - Wert: fast drei Milliarden Euro. Die Dealer hatten ihre Gewinne aus den Schmuggelgeschäften in der virtuellen Währung angelegt. Der Fall zeigt vor allem, wie anfällig das europäische Zollsystem aus 28 EU-Staaten ist - der nationale Zoll ist auch für die Erhebung der Mehrwertsteuer im grenzüberschreitenden Verkehr zuständig. Im Ergebnis gehen der Europäischen Union jedes Jahr viele Milliarden verloren.

Die Sache selber ist kompliziert. Das Mehrwertsteuersystem innerhalb des Europäischen Binnenmarktes sollte genau so funktionieren, als wäre die EU ein Land. Grenzüberschreitende Lieferungen müssten demnach im Ursprungsland mit Umsatzsteuer - so der Fachbegriff für die Mehrwertsteuer - belastet werden. Eigentlich, denn die Mitgliedstaaten können sich immer noch nicht auf dieses Modell einigen. Auch, weil man sich gegenseitig misstraut. Die EU-Staaten einigen sich stattdessen mit der Binnenmarktrichtlinie auf eine »Übergangslösung«. Das war 1991.

Steuer auf den Mehrwert

Die rechtlich korrekte Bezeichnung lautet Umsatzsteuer. Sie wird nämlich immer dann fällig, wenn ein Unternehmen ein Produkt oder eine Dienstleistung verkauft, also immer wenn es Umsatz macht.

Ursprünglich kumulierte sich die auf jeder Stufe erhobene Steuer: von der Rohstoffförderung und -verarbeitung über die Teileproduktion und Endmontage bis zum Groß- und Einzelhandel. Dies bevorteilte Konzerne mit hoher Fertigungstiefe. Anfang 1968 trat eine Reform in Kraft, die das Problem löste: Seither wird der Mehrwert besteuert. Jeder Käufer oder Händler kommt nur für die von ihm verursachte Wertsteigerung auf. Dank Vorsteuerabzugs erhält er die von ihm selbst entrichtete Umsatzsteuer vom Finanzamt zurück. Nur den letzten in der Kette trifft sie voll: den Endverbraucher. Da die Umsatz- anders als die Einkommensteuer für alle gleich hoch ist, trifft sie ärmere Schichten am härtesten. Für den Staat waren Umsatz- und Einfuhrumsatzsteuer zusammengerechnet 2016 mit rund 216 Milliarden Euro die ergiebigste Einzelsteuer.

In Deutschland gibt es je nach Ware einen Normalsatz von 19 Prozent und einen ermäßigten von 7 Prozent. Die Einteilung ist höchst willkürlich, so dass regelmäßig eine Reformierung gefordert wird. KSte

Diese Übergangslösung gilt heute noch, obwohl sie anfällig für Betrug ist: Bei einer innergemeinschaftlichen Lieferung ist der Verkäufer nicht dazu verpflichtet, dem Käufer Umsatzsteuer zu berechnen, diese einzuziehen und an das Finanzamt abzuführen. Dadurch wird es möglich, Gegenstände über Grenzen hinweg mehrwertsteuerfrei zu erwerben, was den sogenannten Karussell-Betrug ermöglicht. Dazu verkauft beispielsweise der deutscher Importeur Y eine Ware aus Dänemark an den Erwerber X in Deutschland weiter, führt aber die von X überwiesene Mehrwertsteuer nicht an das Finanzamt ab. Die Firma X verkauft die Ware wieder steuerfrei über die Grenze hinweg nach Polen und macht die ihm von Y in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer als Vorsteuer gegenüber seinem Finanzamt geltend. Aus Polen wird dieselbe Ware dann wieder nach Dänemark verkauft, von dort nach Deutschland, nach Polen … Im Ergebnis erstattet der deutsche Fiskus mehrfach Steuergelder, die er nicht eingenommen hat. Allein durch diesen Karussell-Betrug gehen der EU etwa 50 Milliarden Euro pro Jahr verloren.

»Entscheidend für den Erfolg eines Umsatzsteuerkarussells ist, dass sich dieses möglichst schnell dreht und so große Warenmengen in möglichst kurzer Zeit im Kreis bewegt werden«, berichtet die Kanzlei für Steuerstrafrecht, Just & Partner, in Hamburg. Daher seien kleine, in großen Mengen zu transportierende, aber teure Güter wie Tablets oder Smartphones besonders beliebt. Früher oder später droht jedes Karussell aufzufliegen, doch bis dahin haben die Kriminellen genügend Zeit, um ihre »Schäfchen ins Trockene zu bringen«.

Die mangelnde Effizienz von Zollämtern und Steuerbehörden lässt weitere Schlupflöcher zu. Zum Teil dürften diese politisch gewollt sein. Die EU-Kommission ermittelt diese »Mehrwertsteuerlücke« regelmäßig: Für das Jahr 2015 bezifferte sie kürzlich die Mindereinnahmen auf über 150 Milliarden Euro.

Im Dezember einigten sich die EU-Finanzminister endlich auf eine Reform. Bis 2021 soll der grenzüberschreitende Online-Handel »vereinfacht« werden, heißt es in einer Mitteilung des EU-Rats. Dadurch sollen jährlich fünf Milliarden Euro mehr beim Fiskus eingehen. Ein kleiner Schritt: Zwar bestätigt die EU auf Anfrage, dass die »Kommission noch eine viel weitreichendere Reform des Mehrwertsteuersystems vorschlägt«. Doch ob sie jemals die Zustimmung der Regierungen und des Europaparlaments finden wird, steht in den Sternen. Bis dahin gilt die Übergangsregelung von 1991 weiter.

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