Gerechtigkeit und das tägliche Brot

Nasrin Parsa: Wir erleben gerade, wie ein neues Kapitel iranische Geschichte geschrieben wird

  • Nasrin Parsa:
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit einer Woche gibt es jetzt Demonstrationen in Iran. Es gibt Todesopfer und viele Verhaftungen. Trotzdem gehen Menschen weiter auf die Straße, offensichtlich ohne dass dies von Gewerkschaften oder anderen Organisationen organisiert worden ist. Was ist die treibende Kraft dieser Bewegung?

Die Gründe sind vielfältig, aber an erster Stelle steht sicher die miserable wirtschaftliche Situation von immer mehr iranischen Familien. Seit einiger Zeit fürchten sie auch um ihre Ersparnisse. Viele Banken, sowohl staatliche als auch nichtstaatliche, zahlen derzeit einfach nicht mehr. Eines dieser Geldinstitute ist die Maskan-Bank, die vor allem Hausbau-Kredite finanziert.

Nasrin Parsa
Nasrin Parsa ist freie Publizistin und Filmregisseurin. Sie wurde in Iran geboren und lebt seit 1985 in der BRD.

Zahlungsverzögerungen und sogar -ausfälle sind derzeit in vielen Bereichen Irans an der Tagesordnung. Viele Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, zum Beispiel Lehrer, werden nicht regelmäßig bezahlt. Die Pensionen aus den Rentenkassen betrifft es ebenso. Aber auch Arbeiter in privaten Unternehmen können nicht damit rechnen, pünktlich am Monatsende entlohnt zu werden. Man hört von Zeitspannen zwischen drei und 30 Monaten Zahlungsverzögerung. Um so mehr macht es die Menschen wütend, wenn sie erfahren, dass die Bezüge für Parlamentsabgeordnete um 70 Prozent erhöht wurden. Das ist voriges Jahr geschehen.

Allgemein ist die Kaufkraft der Menschen stark gesunken. Das Aufbegehren dagegen kommt auch von ungewohnter Seite, zum Beispiel aus der Armee. Ein Sprecher der Rentenorganisation der Armee wandte sich deshalb an das religiöse Oberhaupt der Islamischen Republik, Seyed Ali Chamenei. »Wenn sie unseren Forderungen nicht nachkommen«, wird der Sprecher zitiert, »wird die Armee nicht mehr bei Ihnen sein. Es ist beschämend, dass wir als treue Soldaten im achtjährigen Krieg gegen Irak unserem Land (1980 bis 1988 - d. Red.) gedient haben und heute als Rentner für unseren Lebensunterhalt noch als Taxifahrer arbeiten müssen.«

Neben den sozialen Ursachen spielt auch das Thema Umweltverschmutzung eine relevante Rolle für die Proteste, zum Beispiel in Ahwaz, einer Millionenstadt in der südöstlichen Provinz Chuzistan, deren Bewohner schon seit zwei Jahren gegen die miserable Lebenssituation auf die Straße gehen. Die Menschen dort leiden seit mehrere Jahren unter total verschmutztem Wasser und miserabler Luftqualität.

Dabei ist Ahwaz eines der Zentren der iranischen Öl- und Gasförderung. Die Stadt und die Provinz verfügen deshalb über Kontingente an Sicherheits- und Militärdiensten, die zu den größten in Iran gehören.

In den vier Jahrzehnten seit Beginn der Islamischen Revolution in Iran im Jahre 1979 haben die Menschen auf dem Land und in der Stadt viele schreckliches Situationen erlebt. Am schlimmsten war wohl der Krieg mit Irak, der eine Million Kriegsinvaliden im Lande hinterlassen hat. Millionen Iraner sind seit der Revolution ins Ausland geflohen. Viele, die in Iran geblieben sind, wurden Opfer politischer Machtspiele, von Korruption und anderen Intrigen.

Sanktionen des Auslands dienten häufig genug als Vorwand für »Solidarität und Widerstand gegen den großen Satan«, die USA. Dies wurde vom einfachen Volk verlangt, und man bekam es auch. Jede Drohung aus der EU und den USA nahm der Staat zum Anlass, Protestierende in Iran als »Marionetten des Westens« zu bezeichnen. In dieser Zeit aber haben sich viele der »Oberen« mit Erdölhandel die Taschen gefüllt, im Ausland - besonders in den USA und Kanada - gute Geschäfte gemacht und das Geld zum Beispiel in Immobilien investiert.

Die iranische Schriftstellerverband hat am 31. Dezember in einer Erklärung die Forderungen der Demonstranten unterstützt. Darin heißt es u. a.: »Ob Menschen in einer Gemeinschaft Grundrechte haben, ob ihre Menschenwürde respektiert wird oder nicht, daran misst sich der Freiheitsgrad einer Gesellschaft in diesen Zeiten.«

In einer Gesellschaft, in der Protest nicht frei ist, gibt es keine Meinungsfreiheit. Wenn Menschen auf die Straße gehen, um ihre wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme zu äußern, ist die Art der Kollision der Regierung mit ihnen ihr Standard der Freiheit.

Viele Menschen fordern heute die Freiheit, friedlich demonstrieren zu dürfen. Gerade wird ein neues Kapitel iranische Geschichte geschrieben - durch eine Bewegung für soziale Gerechtigkeit und das tägliche Brot.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal