nd-aktuell.de / 06.01.2018 / Kultur / Seite 22

Scham ob des Schweißes

Zwei Brüder und ein Huhn auf dem Balkon.

Dirk Werner

Wenn mein Bruder anfing zu schwitzen, begann er sich zu schämen. Er schien wie ein Eisberg dahinzuschmelzen. Tropfen traten auf seine Stirn. Seine Schläfen entlang lief es. In schlimmeren Fällen wurde sein Gesicht puterrot. Er wusste nicht, wohin mit sich. Unter den Stuhl? Niemals. Unter den Tisch? Niemals. An die Sitzbank im Bus gepresst, in dem er regelmäßig im Sommer schwitzte? Er hätte sich nicht verkrochen, so gern er sich verkrochen hätte. Er war zu groß für diese Welt, zu groß und dickleibig. So stand Verkriechen auch nicht in seine Pläne eingeschrieben. Er war da, vorhanden, und auch der Schweiß war vorhanden. Und die Scham darob ebenso.

Ich selbst habe die Scham wegen meiner Körperflüssigkeit Schweiß erst sehr spät verloren. Sehr, sehr spät. Erst jetzt. Er ist mir lästig, mein Schweiß, wenn er mir sommers unter meinem Hut hervorquillt. Gut, ich schäme mich ein bisschen dafür. Aber in der Hauptsache will ich damit leben, kann ich damit leben. Der Schweiß verändert die Sympathien, die ich für meinen Körper hege. Er lässt mich zweierlei werden: hier der Körper Dirk Werner und dort der Schweiß Dirk Werners. Also schäme ich mich meines Schweißes doch? Es hängt von der Situation ab, stelle ich gerade fest. Aber wenn mein Bruder anfing zu schwitzen und begann, sich dessen zu schämen, so sprach ich ihm innerlich zu: Mensch, reiß dich zusammen. Rück uns nicht zu sehr in den Blickwinkel anderer Leute. Was sollen die von uns denken, wo wir doch schon als Brüderpaar das merkwürdigste waren, das je über die Erde wandelte. Ich wollte nicht, dass er schwitzte und sich dafür schämte, so wie wir uns beide schämten, uns als Brüderpaar irgendwo vorstellen zu müssen. Und er? Wollte er einen so klapperdürren, winzigen Bruder haben? Der nichts anderes hatte als eine große, freche Klappe, der aber kleinlaut wurde im sommerlich heißen Bus auf dem Wege zu den Großeltern?

*

Ich stelle mir vor, die Hühner wären Nachfahren der Saurier. In ihrem Körperbau erinnern sie mich an diese Urahnen; ihre kräftigen Krallenfüße lassen an sie denken. In ihrer Haltung, ihrem aufrechten Gang sind sie Nachfahren derer, die einst über die Erde stolzierten. Und es gab ja auch kleinste und kleine Sauriertypen. Daran musste ich denken, als ein Spatz drüben durch den Busch schwirrte und wie er während seines Schwirrens Laute macht, die wohl kaum einem Zwitschern ähneln. Ich stelle mir vor, es hätte so sehr kleine Flugsaurier gegeben, deren Schutz vor den großen Sauriern zum Beispiel in Geschwindigkeit und Gewandtheit bestand: die großen, ihnen zu folgen, viel zu träge. Ein Spatz = ein lustiger Saurier? So ungefähr muss man sich das vorstellen. Doch wenn ich zur selben Zeit auf der Erde gewesen wäre - wie ungeheuer einsam. Ich hätte mich nicht sattsehen können, wäre aber von allen anderen Menschen abgeschnitten. Und fremdeln würde ich ganz ungeheuerlich, da doch nur immer wieder neu Fremdes auftauchen würde.

Die Hühner vor dem Haus des Nachbarn wachsen jeden Tag um drei Zentimeter. Sie verlieren nach und nach ihre immer größer werdenden Federn. Anfangs genoss ich es, diese zu betrachten, wie man mitunter gefallenes Laub im Herbst betrachtet. Doch lagen sie bald vor mir auf dem Gehweg wie riesige Schaufeln, die Schäfte groß geworden. Selbst die Hühnerschnäbel blieben sich nicht gleich. Der obere Haken wurde länger, stärker, schärfer. Die untere Schnabelhälfte blieb das gefährliche Pendant dazu.

*

Schweiß labt uns alle, so wie wir sind. Er kühlt uns, gibt wie unsere Tränen unserer Haut Würze. Labte der Schweiß meines Bruders ihn, den Bruder? Ja, es wäre beinahe dazu gekommen. Wenn er sich nur nicht dessen geschämt hätte - seelische Qualen deswegen ausstand und in meinem Empfinden vor aller Augen so hässlich wurde, dass ich beschloss, nicht mehr zu ihm zu gehören. Er war ja nur im Schoße unserer Familie recht und richtig vorhanden. Aber das musste man erst einmal begreifen angesichts seines immens gewachsenen Körpers.

Ohne Knacks, ohne Geräusche verschlingen diese Hühnerähnlichen des Nachbarn ein paar Küken, die groß sind wie Raben und ebenso schwarz. Sie waren aus gefleckten Eiern gekrochen, die die Hühner nicht bebrütet hatten. Die stechende Sonne hatte für Wärme, für Hitze gesorgt. Die Küken, so nicht gefressen, wuchsen immens. Ich stelle mir die Hühner ohne Gefieder vor. Nicht nur ohne Gefieder, sondern auch ohne die Stellen, die in der Haut unter dem Wachstum der Federn entstanden sind. Ohne all die Löcher in der Haut, in die die Schäfte gehörten. Ich stelle mir auch einmal die Rückentwicklungen der Schnäbel im Verlauf von Jahrmillionen zu Maulähnlichem vor.

*

Es sind nicht die Schnäbel, das Verhornte von heute, die damals Schreie hervorgebracht haben. Und wenn mir die Schreie der Hühner von heute völlig befremdlich vorkommen, umso wie viel befremdlicher war vielleicht die damalige Schrei- und Lautwelt. Oder haben wir das nur von der Wissenschaft als so vermutetet und angenommen gehört? Oder macht mir das meine eigene Fantasie vor: Klang und Schreie einer fremden Welt? Hat es nicht kaum erträglich Schönes unter den Geräuschen gegeben - damals? Harmonien oder Disharmonien, die uns heute als betörend vorkommen müssten? Ist nicht das Krähen der heutigen Hühner und Hähne in Wahrheit unerträglich, weil es vielleicht nur eine Verkürzung des Damaligen darstellt? Während die Hühner dem Feinde fliehen, greift der Hahn wütend seinesgleichen an. Und die roten Kämme, von denen der Hahn einen so mächtigen besitzt, warnen, schrecken ab, drohen Gefahr für den anderen an. Und die Größe, die Röte mag vielleicht auch bei den Hühnern die Hierarchie kennzeichnen.

*

Wie nervös, wie bestürzt muss mein Bruder reagiert haben, als meine Mutter mit mir als Neugeborenem aus dem Krankenhaus heimkehrte. Wie erstaunt muss ich gewesen sein, ihn dort vorzufinden. Wie fremd wir uns von Anfang an gewesen sein mussten. Warum gab es ihn - warum gab es mich? Es war, als stürze man mich in eine Grotte. Nein, das ist ein falscher Vergleich. Seine Hitze war unerträglich, seine Körperlichkeit. Während ihn es ja verdutzt haben musste, mich vorzufinden, der ich nicht vorhanden war. Wie verteilte sich meiner Mutter Liebe auf uns, da sie doch keine Liebe zu verteilen hatte? Vielleicht konnte sie mit seiner Körperlichkeit viel besser umgehen als mit meiner körperlichen Zerbrechlichkeit. Ich wollte nicht sein, aber er war. - Er schämte sich seines Körpers all die Jahre, die er bei uns war. Doch als er auszog, ein Hafenarbeiter, ein Kranfahrer gar zu werden, da war es irgendwann mit der Scham vorüber. Ein Selbstbewusstsein erwuchs ihm mit einer neuen Stellung, mit der Erkenntnis, dass er zu leisten imstande war, als er erkannte, dass er völlig unabhängig von diesem Zuhause existieren konnte. War er dann wieder zu Hause auf Besuch oder im Urlaub, vertiefte er sich in Historien, Atlanten und Lexika. Er war in eine völlig andere Welt aufgestiegen, besser gesagt, in zwei andere Welten - seine Arbeitswelt und in die eines Forschers, der sich selbst in dieser Position nie gesehen haben würde, den neuen Zustand so nie definiert haben würde. Da auch ich neue Wege abseits von zu Hause ging, war unser Zwist entschärft. Wir begegneten einander nicht mehr mit Feindseligkeit, sondern mit abgestumpftem Wissen umeinander, mit einer gegenseitigen, rauen Akzeptanz. Da es so kam, dass wir beide zeitweise in derselben Stadt wohnten, besuchte ich ihn. Wir sahen zusammen fern, rauchten miteinander. Er erwies sich mir gegenüber als großzügig, auch wenn wir nicht viel voneinander wissen wollten. Er wollte keine Details von meiner Arbeit wissen, ich erfuhr kaum etwas von seiner Arbeit. Ich hatte vielleicht geglaubt, als Volontär an einer Zeitung mehr Anerkennung durch meine Mutter zu erfahren. Aber er tat das ab mit einem Achselzucken seines nun kräftiger werdenden Körpers. Ich hatte keine Ahnung, was Liebe war, da ich zu Hause keine solche kennengelernt hatte. Ich liebte weder meine Mutter - obwohl ich hier gern Gegenteiliges niederschreiben würde - noch ihn, meinen Bruder. Aber da wir beide nun das mütterliche Zuhause hinter uns gelassen hatten, konnten wir alle drei aufatmen. Es war noch einmal gut gegangen, obschon keiner von uns vermutet hätte, dass es so kommen würde. Im Übrigen: Wie sehr überraschte es mich, hielt mein erwachsener Bruder sich doch in seiner Wohnung ein Huhn. Es lief dort frei herum, auf dem Balkon hatte es Erde, zu scharren und um den Kot von sich zu lassen. Er hatte seinen Spaß daran, erzählte aber nie etwas über dieses Zusammenleben, von dem ich nicht wusste, wie es gekommen war. Er nannte das Tier Thea, und es war rostbraun.