Versuch einer Volksoper

Im HAU kreiert die Gruppe FUX ein neues Subgenre des politischen Musiktheaters

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Kunstform Oper hat auch eine revolutionäre Vergangenheit. Nicht die Hofoper natürlich, sondern die auf Pariser Jahrmärkten veranstaltete Volksoper in der Tradition der »Opera de la Foire«. Die Künstler hatten, nach verhängtem Sprechverbot durch die Zensur, erst die Kunstform Pantomime erfunden und schließlich, um das Publikum besser animieren zu können und das Wort dennoch hörbar zu machen, auf Schildern den zu singenden Text hochgehalten. Und die Pariser Jahrmarktsbesucher sangen! In den Pariser Polizeiakten ist etwa festgehalten, wie 1718 das Publikum lautstark die Verhaftung des Harlekins zu verhindern versuchte: »Von oben erscheinen Tafeln, auf denen das gespielte Stück in Vaudeville-Manier als Text zu bekannten Melodien steht. Die Darsteller zeigen pantomimisch, was auf den Schildern steht, und die Zuschauer singen den Text dazu.«

Bei ihrer »Wiederentdeckung der Granteloper« greift die Gießener Gruppe FUX, 2014 und 2016 von »Theater heute« zur besten Nachwuchstruppe gekürt, auf diese Anfänge zurück. Diskursgeschult, wie sie es sind, spinnen die Künstler den Ableitungsfaden weiter zum Wiener Reformkomponisten Christoph Willibald Gluck. Damit wäre das Granteln erklärt. Die drei Performer, die sich mit den Vornamen der FUX-Gründer ansprechen, obwohl sie es nicht sind - eine hübsche kleine Identitätsverwirrung -, leiten dann über zum Kern des neuen Subgenres, eben dem Granteln und Lamentieren. Das unternehmen sie höchst vergnüglich.

Beim minimalistischen »Nein, Nee, Nö«-Gesang werden die Stimmen von Léonard Bertholet, Tino Kühn und Hannah Müller regelrecht zu Orgelpfeifen, die einen semisakralen Sound erzeugen. Danach wird inhaltlich lamentiert, über labbrige Cornflakes und Bioprodukte in Plastiktüten, aber auch über die eigene Unfähigkeit, selbst etwas gegen das ganze Unheil auf der Welt zu tun. Das ungeheure Beleidigtsein, das die infantilisierte Konsumentenpopulation des 21. Jahrhunderts charakterisiert, wird operettenhaft ausagiert. Das macht Spaß, da stimmt man insgeheim mit ein.

Auch die Reflexion darüber, was das Volk, das Handlungssubjekt der Volksoper also, eigentlich sei, bezaubert. Es sind immer nur die anderen, außerhalb des eigenen Kulturboheme-Prekariats-Mittelstands-Soziotops. FUX liefert keine AfD-Wähler-Analyse, aber die Truppe erinnert daran, dass dann, wenn sich Volk artikuliert, nicht zwangsläufig Harmonien ertönen.

Begleitet wird der Gesang zuweilen von einem in einer Muschel versteckten Musikertrio. Dass dort nur gelegentlich gespielt wird, oft aber die Musik von Tonkonserven kommt, enttäuscht. Es zerstört den hemdsärmeligen Live-Charakter, den die Performer herstellen.

Die Übertragung des gesungenen Grantelns in eine musikalisch-politische Aktion - analog zum Verhaftungsverhinderungsgesang der Pariser Jahrmärkte - misslingt schließlich völlig. In den Abschlusschor will so gut wie niemand aus dem Publikum einstimmen. Sei es, weil es die tradierten Frustableitungskanäle bevorzugt; schließlich ist der Berliner der meckernde Hinnehmer allen Unheils schlechthin. Vielleicht hatte auch die Agitprop-Anleihe kurz zuvor als Mitmach-Gegengift gewirkt: Die Performer hatten aus Lautsprechertrichtern einen Chor geformt und damit sanft die Propaganda-Technologie im offenen Raum ironisiert.

Insgesamt eröffnet die weitgehend auf fiktionaler Basis beruhende »Wiederentdeckung der Granteloper« den Weg zu einem neuen Format. Die Performer sind souverän selbst dann, wenn ihnen etwas misslingt. Die Bühne wird durch so schöne Elemente wie Musikermuschel, Grantelturm, Schalltrichter und Lichterketten strukturiert (Bühnenbild: Annatina Huwiler).

Als Alltagsärger bezähmend könnte sich die Anregung herausstellen, Dialoge mit Callcentern in Gesang umzusetzen. Mal ein ganz praktischer Nebeneffekt eines künstlerischen Ereignisses.

Nächste Vorstellungen am 12. und 13.1. im HAU3, Tempelhofer Ufer 10, Kreuzberg

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