• Politik
  • Repression in der Türkei

Entspannung in Zeiten des Notstandes

Während sich die deutsch-türkischen Beziehungen entkrampfen, fragen türkische Oppositionelle nach dem Preis für die »Rückkehr zur Normalität«

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit Wochen wabern Begriffe wie »Entspannung«, »Charmeoffensive« und »Wiederannäherung« durch die deutsche Öffentlichkeit, wenn von den Beziehungen zur Türkei die Rede ist. Bei der türkischen Opposition wachsen indes die Sorgen vor schmutzigen Deals.

Am Freitag appellierte der im deutschen Exil lebende Ex-Chefredakteur des regierungskritischen Blattes »Cumhuriyet«, Can Dündar, im Interview mit der »Nordwest-Zeitung« an die Bundesregierung. Diese dürfe ihre Prinzipien nicht aufgeben und müsse auf Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Menschenrechte pochen. Dündar warnte vor einem Waffendeal mit der Türkei zur Freilassung des »Welt«-Korrespondenten Deniz Yücel.

Einen solchen hatte Außenminister Sigmar Gabriel vergangene Woche angedeutet. »Die deutschen Inhaftierten sind Geiseln. Kauft Deutschland Geiseln mit schmutzigen Deals frei, fühlt sich Erdoğan ermutigt, gleich die nächsten Journalisten einzukerkern«, so Dündar. Die in der Türkei vor Gericht stehende deutsche Übersetzerin Meşale Tolu äußerte sich ähnlich. »Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie sich für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen einsetzt«, sagte sie dem »Spiegel«. Die Türkei werde nach wie vor durch Notstandsgesetze regiert, so Tolu, die im Dezember aus türkischer Untersuchungshaft entlassen worden war. Auch dies wird von vielen Seiten als Zeichen der Entspannung gewertet.

Eine solche ist ganz offensichtlich Ziel der türkischen Regierung - und auch Deutschland und die EU wünschen die »Rückkehr zur Normalität«. Das man sich von dem einst guten Verhältnis weit entfernt hatte, lag ohnehin nicht an Europa. Das Porzellan hatte die türkische Regierung mit wüsten Beschimpfungen, Nazivergleichen und Verhaftungen ausländischer Staatsbürger zerschlagen. Nun scheint Erdoğans Truppe vor allem wegen der wirtschaftlichen Beziehungen einen Gang zurückzuschalten.

In den vergangenen Wochen war wegen der hohen Inflation die Wirtschaft das Thema Nummer eins in der türkischen Öffentlichkeit. Und: Die Tourismussaison steht ins Haus. Das kommende Wochenende sei, schreibt die »Welt«, für alle deutschen Touristik-Unternehmen das nachfragestärkste des gesamten Jahres; 1,2 Millionen Deutsche planen in den nächsten Tagen ihren Sommerurlaub. Passend zum deutsch-türkischen Tauwetter meldete der Reiskonzern TUI dieser Tage schon jetzt ein Buchungsplus für die Türkei von 70 Prozent gegenüber 2017, man stocke daher die Flugkapazitäten um 100 000 Plätze auf. Da helfen weitere Entspannungsübungen, um noch mehr Urlaubsbucher zum Nachahmen zu animieren.

Zur Entkrampfung des Verhältnisses zur Türkei äußerte sich am Freitag auch der für die Beitrittsverhandlungen verantwortliche EU-Kommissar Johannes Hahn. Er begrüße einen konstruktiven Dialog und habe ohnehin immer betont, dass die »Türkei für die EU ein sehr wichtiger strategischer Partner« sei, erklärte Hahn der Deutschen Presse-Agentur. Gleichzeitig dämpfte er zu hohe Erwartungen.

Diese sind auch kaum angebracht, blickt man auf die jüngsten Ereignisse in der Türkei. Trotz der am Freitag lancierten Nachricht, dass 1800 nach dem Putschversuch 2016 entlassene Beamte wieder eingestellt werden sollen, gehen die Verhaftungen und Verurteilungen türkischer Staatsbürger weiter. Vergangene Woche wurde der frühere Fraktionsvorsitzende der Linkspartei HDP, Idris Baluken, wegen »Mitgliedschaft in und Propaganda für« die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu fast 17 Jahren Haft verurteilt. Ein ähnliches Schicksal ereilte auch sechs junge, für die HDP aktive Studentinnen, die - ebenfalls vergangene Woche - von einem Gericht in Antalya für insgesamt fast 35 Jahre ins Gefängnis geschickt wurden. Anfang der Woche empfahl das Kabinett zudem dem türkischen Parlament, in dem die AKP die Mehrheit hat, den seit Juli 2016 herrschenden Ausnahmezustand erneut zu verlängern.

Die »Entspannung« bezieht sich also vornehmlich auf das Verhältnis zu Deutschland und der EU. Innenpolitisch kann davon in der Türkei keine Rede sein. Im Gegenteil - die Freilassungen mehrerer deutscher Gefangener verstärkt eher den Eindruck, dass die türkische Justiz immer öfter den Weisungen der Regierung folgt.

Die Ereignisse rund um die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichtes vom Donnerstagnachmittag ergeben allerdings ein ambivalentes Bild. Das Gericht hatte - überraschend - die Klage der beiden Journalisten Mehmet Altan und Şahin Alpay zugelassen, die mit ihrer mehr als ein Jahr andauernden Untersuchungshaft verschiedene Grundrechte gefährdet sahen. Das Verfassungsgericht in Ankara gab ihnen recht, sah in der langen Untersuchungshaft ein Verstoß gegen die Pressefreiheit und veranlasste, die beiden auf freien Fuß zu setzen. Die Regierung reagierte am Freitag äußerst wütend darauf.

Diese Entscheidung schlägt auch in Deutschland hohe Wellen. Denn der seit fast einem Jahr in U-Haft sitzende Deniz Yücel hat beim Verfassungsgericht ebenfalls Klage eingereicht. Dass es in dem Fall Bewegung geben könnte, hatte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu bereits vergangene Woche - kurz vor seinem Besuch bei Sigmar Gabriel in Goslar - angedeutet. Mit einer Einschränkung allerdings: Er begrüße ein rasches Verfahren, habe aber keinen Einfluss auf die Justiz und könne daher auch keine Deals machen - so Çavuşoğlu.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal