Mit Stumpf und Stiel

Ein spektakulärer Fund auf dem US-amerikanischen Büchermarkt: Wie und warum die DDR-Historiografie abgewickelt wurde

Nicht nur bad news, auch good news erreichen uns zuweilen aus den USA. Zu den guten Nachrichten gehört, dass dortige Geisteswissenschaftler einen differenzierten, unvoreingenommenen, vorurteilsfreien Blick auf die Arbeit ihrer Zunftkollegen aus der DDR pflegen, deren Arbeiten, so sie solide und erkenntnisfördernd waren, zu schätzen wissen, sich nicht dem Gestus und Geist der Zeit beugen - wie hierzulande üblich.

Es begann mit einer Konferenz in Potsdam. Nicht in jenem bei Berlin, sondern in Potsdam in St. Lawrence County, im Norden des US-Bundesstaates New York. In dem 16 000 Einwohner zählenden Städtchen, das im Jahr der preußischen Niederlage gegen die Napoleonische Armee in der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 aus der Stadt Madrid (ja, die USA waren ein Land der Einwanderer) herausgelöst und tatsächlich nach dem brandenburgischen Potsdam benannt wurde, hatten sich vor zehn Jahren US-amerikanische und ostdeutsche Historiker zu einem Meinungs- und Gedankenaustausch getroffen, eine Bilanz der Erträge der DDR-Historiografie versucht und danach gefragt, was von dieser bleibt respektive wert ist, nicht vergessen, sondern fortgeführt zu werden. Kontakte und Begegnungen hatte es zwischen jenen vordem, auch schon zur Zeit der Blockkonfrontation gegeben. Sie rissen nicht ab. Ausdruck natürlicher wissenschaftlicher Neugier auf die Arbeit des jeweils anderen, dessen wissenschaftliche Ein- und Ansichten wie auch methodischen Ansätze, von denen man in eigener Forschung eventuell profitieren könnte.

Im vergangenen Jahr nun erschien auf dem US-Büchermarkt eine Bestandsaufnahme mit dem Titel »East German Historians since Reunification. A Discipline Transformed« (Ostdeutsche Historiker seit der Wiedervereinigung. Die Transformation einer Disziplin). Was man hier liest, wünschte man sich auch hierzulande lesen zu dürfen. Kritische und selbstkritische, sachliche und ausgewogene, nachdenkliche und überraschende Reflexionen.

Die Herausgeber, Axel Fair-Schulz Jahrgang 1969, Professor für Europäische Geschichte an der State University of New York, und Mario Kessler, 1955 in Jena geboren, Professor und Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung im deutschen Potsdam, gehen in ihrem Vorwort sogleich in medias res. Bereits Mitte der 1990er Jahre waren nur noch etwa 40 DDR-Historiker an ihren alten Forschungs- und/oder Lehrstellen zu finden, 22 erhielten zeitweilige Anstellung durch das WIP, das Wissenschaftlerintegrationsprogramm. Heute seien weniger als ein Dutzend DDR-sozialisierte Historiker an Universitäten oder diversen Forschungsinstitutionen beschäftigt.

Nun hätte der Leser gern gewusst, wie groß die Schar der Historiker in der DDR war. Der jüngst verstorbene William A. Pelz, der Professor in Illinois und Direktor des Instituts für Geschichte der Arbeiterklasse in Chicago war, hat sich in die »Niederungen« der Statistik begeben und herausgefunden, dass es zum Ende der DDR 1878 DDR-Professoren gab. Nach der Vereinigung hätten drei Viertel ihren Job verloren.

Der ebenfalls kürzlich verstorbene Georg G. Iggers, dessen Eltern 1938 mit dem damals Zwölfjährigen aus Nazideutschland flohen und der Protagonisten der historischen Disziplin beider deutschen Staaten persönlich gut kannte, verweist in seinem Beitrag darauf, dass es ungeachtet des ideologischen Monopols der SED zu allen Zeiten eine gewisse Vielfalt und Breite in Forschung und Lehre in der DDR gegeben habe, unabhängiges Arbeiten möglich gewesen sei. Eine »enorme Vereinfachung« nennt er es, westlicher Wissenschaft unbegrenzten Pluralismus zu bescheinigen und östlicher bornierten Dogmatismus vorzuwerfen.

Niemals und nirgends erfolgen historische Studien voraussetzungslos, und weder war die Forschung im Westen gänzlich frei von politischen Einflüssen noch die im Osten nur dirigistisch, SED diktiert. Iggers wundert sich nicht, dass viele Remigranten, zumal jüdische, den ostdeutschen Staat dem westdeutschen vorzogen. Während Historiker, die dem Naziregime dienten, nach 1945 rasch wieder in die westdeutsche Profession integriert wurden, wurde Walter Markov, der zehn Jahre NS-Haft erlitt, die Habilitation in Bonn verweigert, weshalb er an die Karl-Marx-Universität in Leipzig wechselte. Iggers weiß um das Schicksal »bürgerlicher« Historiker, die in der DDR in den 1950er Jahren aus führenden Positionen in Lehre und Forschung gedrängt wurden und später ebenso einen schweren Stand hatten. Karl-Heinz Blaschke etwa, ein international renommierter nicht marxistischer Sozialhistoriker, wurde erst nach 1990 in Dresden zum Professor berufen. Abschließend artikuliert Iggers sein Erstaunen darüber, dass selbst eine Institution, die politische und kulturelle Grenzen überschritt und kein Pendant in der Bundesrepublik kannte, Opfer der Abwicklung geworden ist: das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Karl Lamprecht begründete Institut für Universalgeschichte in Leipzig, das Walter Markov und Manfred Kossok auf ein neues, modernes Niveau hoben. Iggers würdigt sodann die Verdienste von deren Eleven, namentlich Matthias Middell und Gerald Diesener, die die Tradition zu retten und noch heute zu bewahren versuchten. Und dies bar offizieller Unterstützung,

Pelz weiß auch, warum es diese nicht gab. Er überschrieb seinen Aufsatz mit der Frage: »The Revenge of the Krupps?« (Die Rache der Krupps?) Um diese dann zu bejahen. »Die Eliminierung von Marxismus, Sozialismus und jeder Art von kritischer antikapitalistischer Geschichtsforschung hatte oberste Priorität.« In der Tat. Man fühlt sich da gar an Hitlers Androhung erinnert, »den Marxismus mit Stumpf und Stiel auszurotten«. Doch lassen wir den US-Historiker sprechen. Dem von ihm ausgemachten obersten Ziel der Abwicklung diente es, den »ganzen Erfahrungskomplex DDR« zur Geschichte eines Scheiterns zu reduzieren. »In diesem Narrativ wurden die ostdeutschen Historiker zu lediglich Dienern des totalitären Staates degradiert.«

Ähnlich wie Iggers und andere Autoren hat Pelz den deutschen Vergleich unternommen und ist zur Erkenntnis gelangt: »Letztlich waren die Historiker in beiden deutschen Staaten in verschiedenster Weise Gefangene ihres sozial-ökonomischen Systems.« Diesem Fazit voran ging die Bemerkung, dass man im Osten besorgt sein musste, die Parteibürokratie der SED nicht herauszufordern, die obsessiv die »Linie« verteidigte. Im kapitalistischen Deutschland wiederum habe es kaum Karrierechancen für Historiker gegeben, die den Kapitalismus hinterfragten. Der US-Amerikaner erzählt amüsiert wie erstaunt, dass während der Berufsverbote in den 1970er Jahren ein junger Akademiker zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde, weil er die Bundesrepublik eine »übermalte Coca-Cola-Büchse« genannt hatte.

Während Iggers törichtes Handeln nach 1990 in Leipzig beklagte, kritisiert Fair-Schulz die Abholzung in Berlin. Das von Jürgen Kuczynski gegründete Institut für Wirtschaftsgeschichte nennt er »eines der innovativsten Orte der DDR-Forschung«, lobt dessen »sehr breites Spektrum«, das Industrie, Landwirtschaft, Handel, Banken und Ökologie, die Geschichte ökonomischer Eliten und ökonomischer Krisen, Alltagsgeschichte, Demografie und Statistik umfasste. Die Meriten des Instituts haben es indes nicht vor der Abwicklung 1991 bewahrt. »Weniger als eine Handvoll ehemaliger Mitarbeiter fand neue Positionen in der deutschen Wissenschaftslandschaft.« Auch solche Erfahrungen sind es, die - wie Marcus P. Aurin, Politologe in Boston, in seinem Beitrag feststellt - 75 Prozent der Ostdeutschen sich heute als Bürger zweiter Klasse empfinden lassen.

»Undeniable losses«, unleugbare Verluste, registriert auch Konrad H. Jarausch, Professor für Europäische Zivilisationen an der University of North Carolina und ehemaliger Direktor des Zentrums für Zeitgeschichte in Potsdam. »Anglo-amerikanische Historiker haben mit Überraschung registriert, dass gut bekannte marxistische Kollegen an der Humboldt-Universität wie Kurt Pätzold und Günter Vogler ihre Lehrstühle verloren und führende westdeutsche Wissenschaftler wie Heinrich August Winkler oder Hartmut Kaelble deren Plätze einnahmen.« Jarausch zeigt Verständnis für die Kritik abgewickelter Wissenschaftler an der plumpen Übernahme westlicher Strukturen im Osten, anstatt die auch für jene längst überfällige Reformierung vorzunehmen. Er meint: »Wenngleich die Universitäten der DDR kein Hort der Opposition gewesen sind, hätten doch die inneren Reformer unterstützt werden sollen, statt sie auszuschließen.« Jarausch erinnert an die Diskussionen des Aufbruchs 1989/90 an der Humboldt-Universität zu Berlin und nennt stellvertretend Michael Brie, Dieter Segert und Dieter Klein.

Kurzum, der US-Blick auf die deutsche Vereinigung und deren Folgen ist ungeheuer spannend und aufschlussreich. Es kommen hier freilich auch ostdeutsche Historiker zu Wort, darunter die Doktoren Stefan Bollinger und Ulrich van der Heyden sowie die Professoren Ludwig Elm, Jörg Roesler, Manfred Weißbecker. Innensicht und Außensicht ergänzen sich famos. Bleibt zu hoffen, dass sich ein deutscher Verlag an die Übersetzung wagt.

Axel Fair-Schulz/Mario Kessler (Editors): East German Historians since Reunification. A Discipline Transformed. Suny Press, 252 Pages, Hardcover 85 US-$, Paperback 23,95 US-$.

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