• Berlin
  • 25 Jahre Berliner Tafel

Leider unverzichtbar

Die Berliner Tafel sammelt seit 25 Jahren Lebensmittel ein und gibt sie an Bedürftige ab

»Nicht auf das Podest! Das ist der Altar.« Die etwas harsche Aufforderung der Frau hinter dem Tisch ist unmissverständlich. Rund um den hölzernen Altar in der Martin-Luther-Kirche in Neukölln ist immer Mittwochs eine Ladenstraße mit Ständen aufgebaut, an denen es Käse und Wurst, Backwaren, Obst und Gemüse gibt. Auf den Stühlen, die eigentlich der Gemeinde bei Gottesdiensten vorbehalten sind, warten die Kunden, wie die Mitarbeiter der Tafel die Bedürftigen oft nennen, bis ihr Buchstabe aufgerufen wird und sie ihre Runde drehen dürfen.

»Es ist wie ein Sozialkaufhaus hier«, erzählt einer der ehrenamtlichen Mitarbeiter, der meistens erst zum Aufräumen kommt, wenn der Andrang nachlässt. Der Unkostenbeitrag beträgt 1,50 Euro. Berechtigt ist, wer Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II erhält und im Kiez wohnt. Die Zuordnung der Bedürftigen erfolgt nach Postleitzahl. Damit soll verhindert werden, dass die Lebensmittelausgabe ausgenutzt wird. In der Luther-Kirche warten ganze Familien mit Kindern, kopftuchtragende Frauen, tätowierte Männer mit schwarz-rot-gelben Schlüsselbändern. Einige Plätze sind noch frei. »Am Monatsende ist es immer voller«, erzählt der Ehrenamtliche, »weil bei vielen das Geld knapp wird.«

Im Vorraum der Kirche schaut ein älterer Mann in seine Taschen und sortiert Kochbeutelreis vom Discounter aus. Er mag keinen Reis und reicht ihn an zwei Frauen weiter. »Ich konnte nicht sehen, was mir alles in die Tüte gepackt wurde«, erklärt er. »Das ging heute zu schnell.« Unzufrieden wirkt er trotzdem nicht, als er seinen Einkaufstrolley und zwei Taschen nach Hause schafft.

Sabine Werth gründete vor 25 Jahren mit der Initiative Berliner Frauen e.V. die Tafel, um der Lebensmittelverschwendung zu begegnen und zugleich armen Menschen das Leben zu erleichtern. »Auf der einen Seite gibt es den Überfluss, auf der anderen den Mangel. Mit der Tafel wollen wir eine Brücke bauen«, erklärt die Vorsitzende in ihrem Büro auf dem Großmarkt am Westhafen. Die Tafel holt Waren, die sich nicht mehr verkaufen lassen, aber noch genießbar sind, aus Supermärkten, Bäckereien und kleineren Geschäften ab und gibt sie an Bedürftige weiter.

Die Idee breitete sich schnell aus. Bald schon gründeten sich Tafeln auch in München, Göttingen, Hamburg, Kiel, Bremen und Osnabrück. Mittlerweile gibt es einen Bundesverband mit mehr als 900 Tafeln. Die Berliner Einrichtung ist längst ein mittelständiges Unternehmen geworden, das derzeit 26 Mitarbeiter anstellt. In den Bezirken gibt es 48 Ausgabestellen in Kirchen, die sich »Laib und Seele« nennen. Außerdem beliefert die Tafel rund 300 soziale Einrichtungen, wie die Bahnhofsmission am Zoo oder Kinder- und Jugendzentren. Davon profitieren laut Werth rund 125 000 Menschen in der Hauptstadt.

Die Zahlen sprechen für sich. Die Tafelbewegung ist zweifellos eine Erfolgsgeschichte - und dennoch nicht unumstritten. Sozialwissenschaftler sehen einhergehend mit der Ausbreitung der Tafeln auch eine schleichende Übernahme von Aufgaben, für die eigentlich der Staat zuständig ist. Die Armut werde dadurch manifestiert, so die Annahme. Dem widerspricht allerdings die Bundesregierung. »Die Tafeln haben eine ergänzende und nicht eine ersetzende Funktion«, antwortete sie auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion vor zweieinhalb Jahren. Tafeln sollen also kein offizielles Mittel der Armutsbekämpfung sein.

Dennoch schließen sie oftmals Lücken bei der Versorgung und vermeiden dadurch Härtefälle. Sabine Werth weiß, dass Mitarbeiter bei den Jobcentern auf die Tafeln verweisen, wenn die Bearbeitung der Anträge länger dauert. »So was finde ich unsäglich.« Es gebe bei den Ausgabestellen der Tafel nämlich keine Garantie darauf, dass die Bedürftigen - Werth nennt sie Gäste - verlässlich versorgt werden. Und auch keinen Anspruch darauf. Außerdem sei der Gang zur Tafel für viele Bedürftige mit Scham behaftet, weiß Sabine Werth. »Es ist nämlich kein schönes Gefühl, sich einzugestehen, bedürftig zu sein.«

Das findet auch Brigitte Köhler, die seit nunmehr fast 15 Jahren zur Ausgabestelle der evangelischen Kirchengemeinde nach Staaken kommt. »Bei den ersten zwei, drei Malen, die ich kam, musste ich mich richtig überwinden«, erzählt die 62-Jährige. »Und es belastet mich noch immer, nicht für mich alleine sorgen zu können.« 80 Euro ihrer Mietkosten übernimmt das Jobcenter nicht, weil die Wohnung zu teuer ist. Das Geld muss sie folglich beim Essen einsparen. Da kommt das Angebot von »Laib und Seele« gerade richtig. »Ohne die Tafel würde es mir schlechter gehen«, gibt sie zu.

Brigitte Köhler kommt fast jeden Donnerstag zur Ausgabestelle, läuft die Stände ab, nimmt von den Mitarbeitern Kartoffeln, Zwiebeln, Backwaren, Obst und Gemüse entgegen. Sie freut sich über die Dinge, die sie sich sonst nicht leisten könnte. Über frischen Lachs oder über eingelegten Matjes in Sahnesoße, den sie zu Mittag mit Salzkartoffeln isst.

Darüber hinaus genießt sie den Austausch mit anderen Gästen und Mitarbeitern. »Man kennt sich inzwischen. Einmal war ich krank und konnte nicht kommen«, erzählt Brigitte Köhler, »da hat eine Mitarbeiterin an mich gedacht und mir eine Essenstasche nach Hause gebracht.« Längst ist für sie der allwöchentliche Gang zu »Laib und Seele« mehr, als nur Lebensmittel abzuholen.

Hinter der Berliner Tafel steckt mittlerweile eine umfangreiche Logistik. Fahrer holen mit Lieferwagen die Ware täglich von Dutzenden Geschäften ab und beliefern die Ausgabestellen mit Lebensmitteln. Bevor die Ware verteilt wird, muss sie in einer Halle auf Verdorbenes gesichtet werden. Ohne Ehrenamtliche würde die Tafel nicht laufen. Einer von ihnen ist Uwe Schulte-Overbeck, der zweimal in der Woche als Fahrer eine Tour übernimmt - am Freitagmorgen fährt er den Lidl-Markt in der Boxhagener Straße und den Edeka in der Rigaer Straße in Friedrichshain an, nimmt Gemüsekartons entgegen, fährt Kisten zum Kiez-Café in der Petersburger Straße. »Ich bin Rentner und möchte mich einbringen«, erzählt der frühere Autohändler und Diskothekenbetreiber.

Als der 62-Jährige bei der Tafel anfing, musste er eine Selbstverpflichtung unterzeichnen, »dass ich mich nicht selbst bediene«. Die Tafel hat diese Verpflichtung eingeführt, nachdem sich im vorigen Frühjahr ein dreister Vorfall ereignete: Ein Fahrer hatte nicht nur die Tafel beliefert, sondern auch seinen Kühlschrank voll gemacht. Als der Fall herauskam, entließ die Tafel den Mann. Doch die Medien hatten längst darüber berichtet.

Für die Tafel, die als Verein auf Spenden und Mitgliedsbeiträge angewiesen ist, sind solche negativen Schlagzeilen Gift. Aber es habe sich um einen Einzelfall gehandelt, erklärt Sabine Werth, der keinen nachhaltigen Schaden angerichtet habe. Die Geschichte der Berliner Tafel vermochte er nicht zu trüben.

»Als wir angefangen haben war Helmut Kohl noch Kanzler. Und von Armut wurde öffentlich gar nicht gesprochen«, erinnert sich Sabine Werth. »Heute wäre ein solches Leugnen von Tatsachen undenkbar.« Sie sieht es als ihre Aufgabe an, sich weiterhin in die Diskussionen über Armut einzumischen und den Finger in die Wunden zu legen.

Für die Zukunft wünscht sie sich, die Arbeit mit Kindern zu intensivieren. Bei dem Kimba-Projekt arbeitet die Tafel mit Schülern zusammen, fährt mit einem zur Küche umgebauten Doppeldeckerbus zu Schulen und Jugendzentren und bietet dort Kochkurse an. Es gibt auch einen ausrangierten Eisenbahnwaggon am Westhafen, an dem die Tafel mit Kindern kocht. »Ich würde mich freuen, wenn wir dieses Angebot ausbauen könnten«. Sabine Werth hofft darauf, irgendwann einmal ein ausrangiertes Flugzeug auf dem Gelände des Airports Tegel zu haben. »Wenn der Flughafen geschlossen ist.«

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