• Kultur
  • "Ein Leben nach Maß" von H.M. von den Brink

Ein Lächeln quer durch die Zeit

H. M. van den Brink spürt dem Messbaren und dem Unwägbaren nach

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein rätselhafter Traum, der sich dem Ich-Erzähler allnächtlich wiederholt, damit beginnt der Roman des niederländischen Autors Hans Maarten van den Brink. Manches muss darin im Dunkeln bleiben. Keine straff gespannten Handlungsstränge sind zu erwarten, sondern ein überaus feines Gewebe aus verschiedenfarbigen Fäden, für dessen Betrachtung man sich Zeit nehmen sollte. Lässt man sich in Ruhe darauf ein, wird es zum Wunderwerk, das in einem weiterwirkt und unvergesslich wird.

Der Autor ist 1956 geboren, sein Ich-Erzähler 13 schicksalhafte Jahre früher. Und Dijk, dessen verschwundener Kollege, nach dem das Buch im niederländischen Original heißt, ist nicht etwa noch älter, wie man zunächst vermuten könnte, sondern wurde am 4. September 1944 geboren. Ein Findelkind, wie sich nach Recherchen herausstellt; der Vater könnte ein deutscher Offizier gewesen sein. Auch werden ihm homoerotische Neigungen nachgesagt. Der Ich-Erzähler stößt auf denunziatorische Briefe, als er auf Geheiß der Direktorin Karl Dijks Personalakte studieren darf. Er soll für sie die Abschiedsrede vorbereiten, aber der zu Ehrende erscheint nicht zur Feier …

Aus Gnatz, weil er schon vor seiner regulären Pensionierung aus dem Amt entlassen worden war? Dijk sei »zu einem Andenken aus dem Museumsshop geworden«, so war es selbst dem, wie gesagt, ein Jahr älteren Ich-Erzähler vorgekommen. 14 Monate nach ihm geht er selbst in Rente. Und nun sitzt er zu Hause, träumt nachts von Dijk und sieht ihn tatsächlich einmal tagsüber tropfnass auf dem Teppich stehen. Eine Halluzination natürlich, die insgeheim die Befürchtung verrät, der Mann könnte ins Wasser gegangen sein. Wird hier das Andenken eines Toten geehrt?

Dijk hatte, wie der Titel sagt, als Einzelgänger ein »Leben nach Maß« geführt und nicht viel Worte darum gemacht. Tagtäglich war er in Schlips und Kragen im Amt erschienen und zuletzt mit seiner Sachkenntnis und Integrität auf einem Nebengleis gelandet. Denn das königliche Eichamt heißt inzwischen »BV Metrifact« und ist, durch Privatisierung, in drei Töchterunternehmen aufgeteilt. Was in den Augen des Ich-Erzählers wie ein Niedergang erscheint. Als zeitgemäß müssen wir es erkennen. Denn wo werden denn heute noch Waagen und Gewichte geeicht?

Der Ich-Erzähler meint von sich, er sei mit der Zeit gegangen, und doch spürt man zwischen den Zeilen leise Nostalgie. Nach dem Krieg hatte Fortschritt »Gesundung« bedeutet, sie waren stolz gewesen, durch ihr Kontrollieren aus den Mitbürgern »bessere Menschen« zu machen. »Gewissenhaftigkeit war unser Streben.« Und dennoch haben auch sie etwas zerstört, was in einer einprägsamen Szene zum Ausdruck kommt. Der Unterschied ist nur, dass solcherart Zerstörung heute viel schneller geht, da man schon kaum mehr von Fortschritt, sondern von Dynamik spricht.

»Die Kompetenz von heute sei das Museumsstück von morgen. Man könne das als Verlust betrachten oder als Bedrohung. Aber vor allem sei es eine Herausforderung, ein Chance.« - Dem Ich-Erzähler klingen die Worte der Direktorin »eher wie der schrille Ausrutscher eines Kreidestücks an einer Schultafel, denn als reizvolle Perspektive«. Und wie der Autor sich auch verstecken mag, von jetzt an hören wir seine Stimme deutlich.

Hans Maarten van den Brink hat seit 1985 acht Bücher veröffentlicht - neben seiner journalistischen Tätigkeit in leitenden Positionen. Bis 2014 war er Direktor des niederländischen Mediafonds. Er kennt das Wort »Herausforderung«, und er kennt die neoliberale Welt. Rasante Veränderungen, mit denen Menschen nicht Schritt halten können, aber dabei so tun müssen, als ob, um nicht als zurückgeblieben zu gelten. Dijk verweigerte sich dem falschen Spiel.

Wie viele, die lebenslang ihr Bestes gaben, werden künftig noch hinweggefegt durch Privatisierung, Kommerzialisierung und Digitalisierung? Welcher Arbeitsplatz kann überhaupt noch als sicher betrachtet werden? Und wenn keinerlei Verbindlichkeit mehr existiert, wie soll es da noch gesellschaftlichen Zusammenhalt geben? Welche allgemeingültigen Ziele kann sich ein Mensch da noch setzen? Worin liegt der Sinn des täglichen Tuns?

Da steht der Ich-Erzähler vor dem Spiegel, und der Autor blickt ihm über die Schulter. Beide wirken erschrocken. »Könnte es sein, dass auch das Bild, das man von sich selbst hat, irgendwo stehenbleibt …?« In diesem Moment, so denkt man sich, würde van den Brink nicht widersprechen können, wenn ihn jemand »wertkonservativ« nennt. Ein politisches Schlagwort, das inzwischen abwertend klingen soll, weil es der neoliberalen Ideologie entgegensteht. Und irgendwann wird auch der Begriff »neoliberal« vielleicht nicht mehr hoffähig sein, Journalisten werden ihn durch »Entwicklungsdynamik« oder ähnliches ersetzen, um jede Gesellschaftskritik zu tilgen.

Karl Dijk - ein trotzig Unangepasster, ein Widerständiger, ein Don Quijote, ein Ritter von der traurigen Gestalt, den niemand braucht, außer der Ich-Erzähler und der Autor, um sich an ihm zu messen. Kann dieses Maß gelten? Welches Maß behält überhaupt seine Gültigkeit? Eine politische, eine existenzielle Frage liegt dunkel unter der schimmernden Oberfläche dieses Romans, in dem sich Gedanken und Bilder ineinander verschlingen. »Mein Gedächtnis gleicht einem umgekippten Karteikasten«, so der Erzähler. Wie aber kann das Messbare mit dem Unwägbaren eine Verbindung eingehen?

Lebendige Erinnerungen tauchen auf an jene Zeiten, als die beiden jungen Männer zum Kalibrieren von Waagen und Gewichten über Land fuhren, als es nur kleine Läden gab, in denen Lebensmittel noch ausgewogen und in Pergamentpapier verpackt wurden.

Beim Lesen stieg mir der Geruch jener Molkerei wieder in die Nase, in die ich mit einer Milchkanne aus Emaille geschickt wurde. Ich lief durch die Palmstraße in Karl-Marx-Stadt und ahnte nicht, dass es bald schon nicht mehr diesen offenen Bottich geben würde, aus dem die Verkäuferin mit einer großen Kelle schöpfte. Was soll’s, die gläsernen Milchflaschen würden mich noch lange begleiten. Dann kamen die Tetrapacks, die Plastikschläuche, und inzwischen gibt es auch wieder die Pfandflaschen aus Glas - im Bioladen, wo die Kartoffeln dreckig sind wie ehedem, aber teurer, als man sich es je hätte denken können.

Solche Abschweifungen sind der Gewinn der Lektüre. Durch sein leises, genaues Erzählen lässt der Autor viel Freiraum dafür. Einmal taucht der Begriff »Vermessung der Welt« im Text auf; man denkt an Daniel Kehlmanns gleichnamigen Roman. Aber H. M. van den Brink erzählt von Joseph Delambre (1749 - 1822) und Pierre Méchain (1744 - 1804), die mit der Vermessung der Entfernung zwischen Dünkirchen und Barcelona die Voraussetzungen für die Einführung des Meters schufen, wobei sie allerdings um 0,2 Millimeter danebenlagen. Er führt uns ins internationale Büro für Maß und Gewicht in den Pariser Vorort Sèvres, wo das »Urkilogramm« in Form eines Platin-Iridium-Zylinders und das »Urmeter« aufbewahrt werden. »Damit war die Grundlage unseres modernen Eichwesens geschaffen, eines der schönsten Kinder der Aufklärung.«

Um das Erbe der Aufklärung geht es also auch. Droht es zu versinken? Was tritt an seine Stelle? Ist den allseits kursierenden Endzeitprognosen zuzustimmen? Eigentlich verbirgt sich ein Essay in diesem Roman, in dem es letztlich um die Suche nach Halt in der Gegenwart geht. »Nach einer unsichtbaren, unantastbaren Größe«, deren Existenz für Karl Dijk das Maß seines Lebens war. Dijks Verlässlichkeit bis zur Starrheit wird der vermeintlichen Auflösung jeglicher Werte entgegengesetzt. Und der Autor sucht, auch im eigenen Interesse, eine Balance zu finden - zur Unwägbarkeit des Lebens hin.

»Alles Lebendige ist nur ein Gleichnis«, so zitiert er Goethe. Tröstender Gedanke: Wenn sich früher alles relativierte, geschieht das auch heute. Hört auf zu klagen. In jedem Status quo stecken Keime der Veränderung. Schlägt das Pendel nach einer Seite aus, wird bereits die Gegenbewegung geboren. Das still hängende Mobile in der Halle seiner Behörde war dem Ich-Erzähler bisher wie ein stählernes Monstrum erschienen, doch nun sieht er es in der Form eines Lächelns: »ein Lächeln quer durch die Zeit«.

H.M. van den Brink: Ein Leben nach Maß. Roman. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Carl Hanser Verlag, 208 S., geb., 19 €.

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