nd-aktuell.de / 01.02.2018 / Kultur / Seite 17

Müsli und Ecstasy

Lindsay Lee Johnson in der pubertären Vorhölle

Lilian-Astrid Geese

Sie hatten es auf Twitter, auf Facebook, in Blogs geschrieben: Emma Fleed war ein reiches Kind. Ein privilegiertes Mädchen in einer Stadt, die ganz darauf ausgerichtet war, ihr ein leichtes und gefahrloses Leben zu ermöglichen. Ein Mädchen, dessen Missgeschicke belanglos und selbst verschuldet waren. Ein Mädchen wie Emma, behaupteten die Leute, habe kein Recht auf Kummer.

Mill Valley heißt die Kleinstadt bei San Francisco, wo das Wetter meist schön ist und die Menschen ihre Haustür nie abschließen, denn Diebe gibt es hier nicht. Niemand muss andere bestehlen, denn hier sind alle reich. Doch der schöne Schein trügt. Das Paradies existiert nur für die in der Wohlstandswolke schaukelnden Erwachsenen. Wer jung ist und noch nach dem Sinn des Lebens sucht, landet in der Idylle zwischen Stinson Beach und Mount Tamalpais schnell in einer pubertären und sozialen Vorhölle. Die Jugendlichen, die Lindsay Lee Johnsons Debütroman bevölkern, führen trotz materiellen Wohlstands ein fremdbestimmtes, dramatisch medialisiertes Leben.

In den jeweils einem ihrer Helden gewidmeten Kapiteln beschreibt die Autorin aus der Perspektive der einzelnen Figuren, wie schwer das Erwachsenwerden auch - oder gerade? - heute sein kann. Tristan Bloch scheitert bereits mit 13 Jahren an der Brutalität einer Klasse, die vom unerfüllbaren Streben nach Selbstoptimierung getrieben wird. Von der einzigen Lehrerin, die ihn überhaupt wahrzunehmen scheint, aufgefordert, Initiative zu zeigen, schreibt er einen Liebesbrief, der prompt im Internet landet. Gemobbt und ausgestoßen, sieht er für sich keinen anderen Ausweg als den Selbstmord. Er springt von der Golden Gate Bridge.

Cally Broderick, das Mädchen, dem er seine Gefühle offenbarte, erfindet sich als kiffende Hippie-Poetin Calista neu. Dem schlechten Gewissen - sie verriet Tristans zarte Worte und fühlt sich schuldig an seinem Tod - kann sie dennoch nicht entfliehen.

Ryan Harbinger, der athletische Beau, ahnt, dass sich hinter seiner Macho-Maske ein ganz anderer Mensch verbirgt. Schließlich gibt er seinen homoerotischen Neigungen nach und taucht in Los Angeles unter. Für Paradiesvögel, so spürt er, ist im Garten Eden kein Platz.

Abigail Cress, einst Callys engste Vertraute, kompensiert Angst und Trauer, indem sie sich in eine sexuelle Beziehung zu ihrem Lehrer flüchtet. Dave Chu kauft sich die Zeugnisnoten, die er braucht, um studieren zu können. Einen »nur« durchschnittlich klugen Sohn würden seine ehrgeizigen Eltern nicht verkraften.

Zwischen ihnen und vielen anderen verlorenen Seelen, die wir zwischen ihrem 13. und 18. Geburtstag ein Stück begleiten, steht die junge Lehrerin Molly Nicoll. Selbst erst gerade in die San Francisco Bay gekommen, versucht sie, ihren Schülern eher Freundin als »Notenverteilerin« zu sein. Erfolglos, weil so viel Verständnis von der Schulleitung und den Kollegen nicht geduldet wird.

Und Emma Fleed? Ein Unfall beendet ihren Traum vom Tanzen und wirft sie zurück in das triste, »ganz normale« Leben.

Ja, sie sind reich und privilegiert, diese Jugendlichen. Und dennoch ist der Weg ins Glück mühsam. Denn sie sind Kinder einer Welt, die von egoistischen, doppelmoralischen, nicht zuhörenden, nichts wissen wollenden Eltern gemacht wird, in der das Glatte, Reibungslose längst die Bereitschaft ersetzt hat, sich auch dem weniger Schlichten zu stellen. Eine Welt, in der es keine wirkliche Kommunikation mehr gibt, sondern nur noch den mit Selfies, Posts und Tweets geführten Dauerkonkurrenzkampf. In der das, was andere über einen denken, wie andere einen sehen, wichtiger ist als das, was man wirklich ist und fühlt. Tristan Bloch stürzt sich von der Brücke. Die anderen balancieren noch auf dem Geländer. Nicht alle werden es schaffen, rechtzeitig zurück auf den langen Weg ans andere Ufer zu finden.

Lindsay Lee Johnson, selbst in Kalifornien geboren, zeichnet in ihrem gut geschriebenen Roman ein dynamisches und nachdenklich machendes Porträt der Mittelschichtsjugend im heutigen Amerika.

Lindsay Lee Johnson: Der gefährlichste Ort der Welt. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Kathrin Razum. dtv, 303 S., geb., 21 €.