Auschwitz-Überlebende erinnert an die Gräuel der Nazis

Bundestag gedenkt Opfer des Nationalsozialismus / UN-Generalsekretär warnt vor vermehrtem Antisemitismus und Hass

  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin. Die Auschwitz-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch hat bei der Holocaust-Gedenkstunde im Bundestag vor neu aufkeimender Judenfeindlichkeit gewarnt. »Antisemitismus ist ein 2000 Jahre alter Virus, anscheinend unheilbar«, sagte sie. »Nur sagt man heute nicht mehr unbedingt Juden. Heute sind es die Israelis.« Dabei fehle es häufig am Verständnis der Zusammenhänge. »Was für ein Skandal, dass jüdische Schulen, sogar jüdische Kindergärten, polizeilich bewacht werden müssen«, sagte sie. Der Bundestag gedachte am Mittwoch der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 durch sowjetische Truppen.

Lasker-Wallfisch erinnerte sich daran, wie die Judenverfolgungen in den 30er Jahren ihrem Familienleben ein jähes Ende setzten. »Das Idyll war zu Ende. Radikale Ausgrenzung. «Juden unerwünscht» war überall zu lesen«, sagte sie. »Wir mussten unsere Wohnung räumen und zurück ins Mittelalter: Wir mussten den gelben Stern auf unserer Kleidung tragen.«

Neue Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher

Die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg hat weitere mutmaßliche NS-Verbrecher ausfindig gemacht. Die Staatsanwaltschaft Erfurt habe auf Grundlage ihrer Recherchen die Ermittlungen gegen fünf ehemalige SS-Wachmänner des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar aufgenommen, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft am Mittwoch auf Anfrage. Die Vorwürfe lauteten auf Beihilfe zum Mord. Die Männer seien heute zwischen 92 und 96 Jahre alt. Zuvor hatte die Tageszeitung »taz« (Donnerstagausgabe) in Berlin berichtet.

Die Beschuldigten leben in Thüringen, Berlin, Baden-Württemberg, Bayern und im Rheinland, wie der Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Jens Rommel, am Mittwoch sagte. Sie sind demnach zwischen Juni 1921 und November 1925 geboren. Rommel sagte, vier der der Beschuldigten seien in der »Spätphase« von Buchenwald dort eingesetzt worden, also 1944/45.

Buchenwald bei Weimar war eines der größten Konzentrationslager auf deutschem Boden. Von 1937 bis zum April 1945 waren dort und in den 139 Außenlagern fast 280 000 Menschen inhaftiert. 56.000 von ihnen starben oder wurden ermordet. dpa/nd

Die Eltern der drei Geschwister seien im April 1942 deportiert worden, berichtete Lasker-Wallfisch. »Wir wollten selbstverständlich zusammen bleiben, mitgehen. Aber unser Vater sagte weise Worte: Nein, da wo wir hingehen, kommt man zeitig genug hin.« Beide Eltern wurden von den Nationalsozialisten ermordet.

Die heute 92-jährige Lasker-Wallfisch überlebte das Vernichtungslager Auschwitz als Cellistin im Mädchenorchester. Die Mitglieder mussten unter anderem für das Lagerpersonal spielen. Im Frühjahr 1945 wurde sie gemeinsam mit ihrer Schwester Renate von britischen Truppen aus dem Lager Bergen-Belsen befreit. »Wer hätte gedacht, dass wir Auschwitz lebendig und nicht als Rauch verlassen würden«, sagte sie mit Bezug auf die Verbrennungsöfen.

Ihr selbst sei danach alles Deutsche verhasst gewesen, sagte Lasker-Wallfisch, die nach England auswanderte und in London das English Chamber Orchestra mitbegründete. Sie habe sich geschworen, nie wieder zurückzukehren, berichte aber inzwischen schon seit Jahren hierzulande von ihren Erfahrungen. »Hass ist ganz einfach ein Gift. Und letzten Endes vergiftet man sich selbst.«

Nach dem Krieg habe Deutschland sich »exemplarisch« verhalten, sagte Lasker-Wallfisch, die auch an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus erinnerte. »Nichts wurde geleugnet.« Für ihre Rede erntete sie stehende Ovationen.

»Wir glauben ja zu wissen, was gut und böse ist«, sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Ansprache. »Musikalische Empfindsamkeit und bestialische Grausamkeit; diesen Tätern war beides möglich.« Schäuble warnte davor, sich auf die Beständigkeit demokratischer Institutionen zu verlassen. »Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Demokratie brauchen unser Engagement.«

Schäuble rief Anfeindungen gegen Migranten und Muslime, das Verbrennen israelischer Flaggen und wachsende Gewaltkriminalität ins Gedächtnis. »Wer Hass schürt, beutet die Verunsicherung, die Ängste von Menschen aus«, sagte er. »Dieses freie, demokratische, rechtsstaatliche, friedliche Deutschland, in dem wir heute das Glück haben zu leben, ist auf der historischen Erfahrung unermesslicher Gewalt gebaut.«

UN-Generalsekretär warnt vor vermehrtem Antisemitismus

Auch international wurde der Gedenktag genutzt, um vor weltweit wachsenden Antisemitismus und anderen Formen von Menschenhass zu warnen. So erklärte UN-Generalsekretär Antonio Guterres, Neonazi-Gruppen und andere Fanatiker hätten großen Zulauf. Hass richte sich gegen Muslime, Migranten und Flüchtlinge und mache selbst vor Kindern nicht halt.

Neonazis und weiße Rassisten nutzten vermehrt das Internet, um dort ihre Parolen zu verbreiten, sagte Guterres in einer Zeremonie bei den Vereinten Nationen. Die Anonymität des Netzes spiele den Extremisten in die Hände.

Der UN-Generalsekretär rief die Völkergemeinschaft auf, die Gräueltaten und den Massenmord der Nazis an den Juden nicht zu vergessen. Diese Verbrechen dürften auch nicht bagatellisiert werden. Die UN erinnern jährlich zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar an den Judenmord des Hitler-Regimes. Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Allein dort hatten die Nationalsozialisten rund 1,1 Millionen Menschen ermordet. Agenturen/nd

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