Jenseits von Gut und Böse

Gabriele Krone-Schmalz beklagt eine Eiszeit in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland

Vom britischen Philosophen John Stuart Mill stammt der Satz: »Da keiner die Wahrheit besitzt, ist es gut, um die Wahrheit zu streiten.« Gabriele Krone-Schmalz streitet mutig um die Wahrheit. Seit Jahr und Tag. Und das ist auch gut so. Sie lässt sich nicht beirren von den Politik- und Mediengurus hierzulande, die jene als »Trolle«, »Agenten des Kremls« oder »Verschwörungstheoretiker« bezeichnen, die der Wahrheit auf den Grund gehen und verstehen wollen, wie es zur neuen Eiszeit zwischen dem Westen und Russland kommen konnte.

»Wissen Sie noch, wie es in den Hochzeiten des Kalten Krieges war?«, fragt sie eingangs ihres neuen Buches die Leser. »Wer eine antisowjetische Politik betrieb, zählte zu den ›Guten‹, auch wenn er Pinochet, Suharto oder Reza Schah Pahlavi hieß. Wer westlichen Interessen in die Quere kam, steckte gewiss mit Moskau unter einer Decke und gehörte beseitigt, wie Allende in Chile, Lumumba im Kongo, Mossadegh im Iran, Sukarno in Indonesien oder Nasser in Ägypten. Der Kalte Krieg war eine Zeit zynischer geostrategischer Interessenpolitik - auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Und nicht selten verstellten die klaren Feindbilder den Blick auf die Realität.«

Von einem neuen Kalten Krieg spricht sie nicht explizit. Sie trauert jedoch offensichtlich den Jahren der neuen deutschen Ostpolitik, internationaler Abrüstung und Gorbatschows Perestroika nach. Vor allem aber jenem kurzen Moment zu Beginn der 1990er Jahre, als es möglich schien, »gemeinsam statt gegeneinander über die Gestaltung der Zukunft nachzudenken, unterschiedliche Erfahrungen in die Waagschale zu werfen und zu überlegen, wie man Völkerverständigung - immerhin eines der erklärten Ziele deutscher Außenpolitik - konkret umsetzen könnte. Jeder sollte sich sicher fühlen ... Was für eine Chance!«

In dieser Zeit arbeitete sie als Auslandskorrespondentin in Moskau. Man könnte nun einwenden, dass jeder, der einmal dort lebte, naturgemäß Land und Leute liebt, zumindest ihnen zugetan ist. Dies werden Ostdeutsche bestätigen, die in Leningrad oder Rostow am Don studiert, möglicherweise auch nur einen Studentensommer dort verbracht oder an der »Druschba«-Trasse mitgearbeitet haben. Der gestandenen Journalistin darf und sollte man allerdings auch ein Berufsethos zugestehen, das sich von Objektivität, Sachlichkeit, Neugier und akribischer Recherche leiten lässt. »Wie kommt es«, fragt sich nicht nur Garbiele Krone-Schmalz, »dass kaum ein Tag vergeht, ohne dass die neuesten russischen Untaten angeprangert werden? Der russische Präsident Wladimir Putin erscheint in Politik und Medien geradezu als Inkarnation des Bösen, dem man auf keinen Fall trauen kann und der nichts Gutes im Schilde führt, selbst wenn er mit Blick auf internationale Krisenherde konstruktive Vorschläge macht.« Die Autorin räumt ein: »Sicher: Es gibt viel zu kritisieren an Putins Politik. Aber ist er wirklich der omnipotente Bösewicht, wie ihn sich Ian Fleming, der Erfinder von James Bond, nicht besser hätte ausdenken können?«

Ihr Buch eröffnet Gabriele Krone-Schmalz mit der E-Mail-Affäre, dem von Wikileaks veröffentlichten dienstlichen Schriftverkehr, für den Hillary Clinton 2012 bis 2014 ihrem privaten Account nutzte. Um diesen in die Hände zu bekommen, bedurfte es keiner russischen Hackerangriffe. Allein der Freedom of Information Act der USA hätte Einsicht in diesen ermöglichen können. Gabriele Krone-Schmalz zitiert aus einer Mail, in der Hillary Clinton begründete, warum der Sturz von Assad notwendig sei und dass man darob einen Krieg mit Russland nicht fürchten müsse: Moskau habe ja auch beim Kosovo-Konflikt stillgehalten. »Es kam anders«, so Gabriele Krone-Schmalz. Für sie ist jenes Schreiben ein Indiz dafür, dass die USA Russland bis vor Kurzem weltpolitisch nicht sonderlich ernst nahmen. Noch im März 2014 sprach Barack Obama verächtlich von einer »Regionalmacht«.

Ausführlich rekapituliert sie den Zusammenbruch Russlands unter Boris Jelzin, was - wie sie spitz anmerkt - dessen Popularität im Westen vermutlich nicht geschadet hat. Sie listet auf, was Russland faktisch mit dem Auseinanderbrechen der UdSSR abhandengekommen ist: mehr als fünf Millionen Quadratkilometer, eine Fläche, eineinhalbmal so groß wie Indien, darunter hoch entwickelte Gebiete (im Westen) und die bevölkerungsreichsten (in Zen-tralasien). »Russland war damit territorial so ›klein‹ wie zuletzt im 17. Jahrhundert.« Große Teile der geopolitisch wichtigen Schwarzmeerküste gingen Russland verloren, der Zugang zur Ostsee beschränkt sich jetzt auf Petersburg und Kaliningrad. Unter Jelzin kam es zum Staatsbankrott von 1998. Der Rubel war nichts mehr wert, die Bevölkerung verlor über Nacht den Großteil ihrer Ersparnisse und wurde mit galoppierender Inflation konfrontiert.

Putin, der im Jahr darauf Ministerpräsident wurde, wollte nicht mehr und nicht weniger, als das Land wieder auf die Beine bringen und dessen Bürgern nach Jahren der Demütigung und Unsicherheit wieder Selbstvertrauen bescheren. »Der Westen war irritiert. Statt mit einem Bittsteller namens Jelzin hatte man es plötzlich mit einem politischen Führer zu tun, der eigene Vorstellungen über die Geschwindigkeit von gesellschaftlicher Transformation hatte.« Und der obendrein als Gleicher unter Gleichen behandelt werden wollte.

Zu Jelzins Zeit war im Westen viel die Rede von Wirtschaftshilfe, nicht aber von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, konstatiert Gabriele Krone-Schmalz. Für das diesbezüglich gebremste Engagement wurde das erpresserische Scheinargument »fehlender Rahmenbedingungen« vorgebracht. Unter Putin sollte das Land nicht mehr nur Absatzmarkt sein. Außenpolitisch sei jener durchaus westlich orientiert gewesen, so die Autorin, russische Initiativen wurden vom Westen jedoch lediglich, wenn überhaupt, mit banalen Floskeln beantwortet. Was Putin in seiner auf Deutsch gehaltenen Rede im September 2001 vor dem Deutschen Bundestag denn auch höflich kritisierte: »Wir sprechen von einer Partnerschaft. In Wirklichkeit haben wir aber immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen.« Wäre Russland als politischer Akteur ernst genommen worden, dann hätte es zum Beispiel keine Bombardierung Serbiens durch die NATO gegeben, meint Gabriele Krone-Schmalz »Aber anders als heute ›beschwerte‹ sich Russland damals eben nur.«

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf New York und Washington hat Putin dem damaligen US-Präsidenten Georg W. Bush junior Kooperation im Kampf gegen den Terrorismus angeboten, »auch weil er sich davon mehr Verständnis für die Schwierigkeiten erhoffte, die Russland seit geraumer Zeit mit islamistischen Terroristen aus Tschetschenien hatte«. Vergessen ist heute, dass der Kreml der afghanischen Nordallianz, auf die sich später auch die USA stützten, schon Mitte der 1990er Jahre im Kampf gegen die militanten Taliban beistand. Und Moskau 2008, als sich die NATO-Truppen in Afghanistan in äußerst misslicher Lage befanden, russisches Territorium für den Transit westlicher Nachschubtransporte zur Verfügung stellte, obwohl da schon die Beziehungen zwischen Moskau und Washington deutlich eingetrübt waren.

Besonders spannend und aufschlussreich sind die Passagen über die »Revolutions-GmbH« (nach einer Titelgeschichte des »Spiegels«), also über die Umstürze in Serbien (2000), Georgien (»Rosenrevolution«, 2003), der Ukraine (»Orangene Revolution«, 2004) und Kirgistan (»Tulpenrevolution«, 2005). Die jungen »Revolutionäre«, länderübergreifend vernetzt und stetig unterwegs, um »autoritäre Regime« zu stürzen, wurden finanziell und logistisch von den USA gefüttert, insbesondere vom Milliardär Georg Soros, der nebenbei bemerkt auch immer wieder als Mitauslöser des Währungscrashs in Russland 1998 genannt wird, sowie von Stiftungen der Republikaner und Demokraten. Vorzüglich und beispielhaft rekapituliert Gabriele Krone-Schmalz den Georgien- und den Ukraine-Konflikt. Wie Nikita Chruschtschow einst die Krim leichtfertig der Ukraine schenkte, hatte Stalin 1931 Abchasien seinem Geburtsland Georgien vermacht. Unaufgeregt und mit historischen Fakten untermauert wird ebenso der Konflikt um Transnistrien in Moldawien rekonstruiert.

Statt sich wie Gabriele Krone-Schmalz in die Materie zu knien, begnügen sich die meisten Westjournalisten damit, Russland zu unterstellen, nach alter imperialer Hegemonie zu streben. In diesem Buch wird die ganze Komplexität und Widersprüchlichkeit der Probleme und Prozesse beleuchtet. »Tatsächlich mussten sich die Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach ihrer Unabhängigkeit erst als Nationalstaaten neu erfinden«, schreibt Gabriele Krone-Schmalz. »Nicht wenige Bürger fühlten sich in erster Linie als Sowjetbürger, nicht als Georgier, Ukrainer oder Weißrussen, was nicht verwunderlich war, da es innerhalb des Imperiums Sowjetunion zu zahlreichen Mischehen gekommen war sowie zu Migrationsbewegungen und sonstigen Verflechtungen.« Die postsowjetischen Staatenlenker mussten die eigene Bevölkerung ergo »umerziehen« und ließen hierfür vor allem Historiker neue nationale Geschichten und Mythen erfinden.

Unter die Lupe genommen hat Gabriele Krone-Schmalz auch den »Joint Hometown News Service«, eine Dienststelle des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums, die Wort- und Bildberichte produziert, um diese ohne Quellenangabe den Medien zuzuspielen. Mit 27 000 Mitarbeitern und jährlich 4,7 Milliarden US-Dollar ausgestattet, soll das Medienimperium des Pentagon die Interpretation internationaler Konflikte und Kriege weltweit diktieren. Eine Erfahrung aus dem Vietnamkrieg.

Die kürzeste Überschrift im Buch lautet »Njet«. Gabriele Krone-Schmalz setzt sich kritisch mit der russischen Blockadepolitik im UN-Sicherheitsrat auseinander, fragt aber auch, wer stetig UN-Resolutionen gegen die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik Israels boykottiert und wer Minsk II blockiert. Last but not least geht sie auf die aus historischer Schuld erwachsene besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Russland ein. Sie schließt mit dem ermunternden Plädoyer: »Selber denken!« Mittlerweile tun dies einige Verantwortungsträger in der Bundesrepublik, wie die jetzige Initiative ostdeutscher Regierungschefs beweist. Die sich allerdings offenkundig aus wirtschaftlichen Geboten speist. Nun denn, wer Handel miteinander führt, führt keinen Krieg gegeneinander. Indes, sich allein der Profite wegen anständig und fair anderen Völkern und Staaten gegenüber zu verhalten, wäre ein menschliches Armutszeugnis.

Gabriele Krone-Schmalz: Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist. C. H. Beck, 290 S., br., 16,95 €.

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