Einfach das Kopftuch ablegen

Nach dem 11. September 2001 hat sich vieles verändert: Beispiele für institutionellen Rassismus

  • Eberhard Schultz
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Rasterfahndung

Die Rasterfahndung ist seit ihrer Einführung von Bürger- und Menschenrechtsorganisationen kritisiert worden und war auch Gegenstand einer aufschlussreichen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Sönke Hilbrans beschreibt 2002, dass deren neueste Anwendungsgeschichte mit der Fahndung nach sogenannten Schläfern islamischer Terrorgruppen auf Basis der Polizeigesetze und in bundesweiter Koordination durch das Bundeskriminalamt (BKA) beginnt. Die Voraussetzungen seien scheinbar günstig gewesen, denn es existierte aufgrund in- und ausländischer, auch nachrichtendienstlicher Erkenntnisse ein gewisses Täterprofil. Eine Gefahr monströser Terroranschläge des Zuschnitts vom 11.9.2001 ließ zudem Verhältnismäßigkeitserwägungen zugunsten der Betroffenen als unbedeutend erscheinen.

So begannen die Polizeibehörden der Länder und das BKA nach einem entsprechenden Beschluss der Innenministerkonferenz vom 18.9.2001 in einer koordinierten Rasterfahndung auf polizeirechtlicher Grundlage vorzugehen. Das mehrstufige, zwischen Ländern und Bund aufgeteilte Verfahren ist auf eine Dauer von bis zu zwei Jahren angelegt.

Das Bundesverfassungsgericht habe 2006 die Rechtswidrigkeit dieser Rasterfahndungen festgestellt, vor allem weil keine konkrete Gefahr vorgelegen habe. Weiterhin führte es aus: Die »Tatsache einer nach bestimmten Kriterien durchgeführten polizeilichen Rasterfahndung« könne »als solche - wenn sie bekannt wird - eine stigmatisierende Wirkung für diejenigen haben, die diese Kriterien erfüllen«. Das könne »insbesondere dann der Fall sein, wenn die Rasterfahndung (…) an die besonderen persönlichkeitsbezogenen Merkmale des Art.3 Abs. 3 GG oder des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 3 WRV anknüpft«.

Für die Rasterfahndungen, die nach dem 11. September 2001 durchgeführt wurden, falle »im Hinblick auf deren Eingriffsintensität ins Gewicht, dass sie sich gegen Ausländer bestimmter Herkunft und muslimischen Glaubens richten, womit stets auch das Risiko verbunden ist, Vorurteile zu reproduzieren und diese Bevölkerungsgruppen in der öffentlichen Wahrnehmung zu stigmatisieren« (…). »Insbesondere die kaum vermeidbaren Nebeneffekte einer nach der Zugehörigkeit zu einer Religion differenzierenden und alle Angehörigen dieser Religion pauschal erfassenden Rasterfahndung erhöhen das Gewicht der mit ihr verbundenen Grundrechtseingriffe und damit die von Verfassungswegen an ihre Rechtfertigung zu stellenden Anforderungen.« (BVerfG, 1 BvR 518/02 vom 4.4.2006, Absatz-Nr. 111-112)

Trotzdem wurde und wird die Rasterfahndung in modifizierter Form weitergeführt und feiert im »Racial Profiling« fröhliche Urstände. Anzumerken bleibt, dass bisher aufgrund der Rasterfahndung noch kein einziger mutmaßlicher Terrorist ermittelt wurde.

Anonyme Strafanzeige

Von einem PC in einer öffentlichen Bibliothek wurde ein palästinensischer Student im Februar 2002 anonym angezeigt und behauptet, er würde Bomben gegen Israelis bauen. Diese anonyme Anzeige ohne weitere Ermittlungen zu seiner Person, seiner Herkunft, etwaigen politischen Tätigkeiten, seinem Umfeld oder Ähnlichem reichte Wochen später dazu, ein Sondereinsatzkommando beim Landeskriminalamt Berlin in das Studentenwohnheim zu schicken, die Tür einzutreten und ihn mit einer Pistole am Kopf zu wecken, mit Stiefeln ins Gesicht zu treten, stundenlang schmerzhaft zu fesseln und alles zu durchsuchen - wobei nichts Verdächtiges gefunden wurde.

Die vom Autor für den Betroffenen erstattete Strafanzeige gegen die Polizeibeamten verlief im Sande, das Kammergericht lehnte es im Januar 2005 ab, eine Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft anzuordnen. Das Strafverfahren gegen den Studenten wegen eines Sprengstoffverbrechens aber wurde erst Anfang 2006, fast vier Jahre später sang- und klanglos eingestellt, obwohl die Akte außer der anonymen Anzeige keinen einzigen belastenden Hinweis enthält. Eine wegen darin aufgetretenen Verletzungen von Grundrechten eingereichte Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen. Dieser Fall zeigt, wie selbst anonyme Anzeigen aufgrund der Wirksamkeit des Feindbildes Islam anders als in anderen vergleichbaren Fällen ohne einen solchen Hintergrund zu schwerwiegenden rechtswidrigen Eingriffen gegen mutmaßliche »islamistische Feinde« führen können, ohne dass die Justiz bereit und in der Lage ist, in derartigen Fällen konsequent zum Schutze der Betroffenen einzugreifen.

Verbot des Islamisten-Kongresses

Im September 2004 wurde ein für Anfang Oktober in Berlin geplanter »1. arabisch-islamischer Kongress in Europa zur Unterstützung der Widerstandsbewegung in Europa und Irak« nach einer wochenlangen Hetze führender Politiker und Massenmedien verboten. Einer der Hauptorganisatoren, der libanesische Staatsangehörige F. M., der seit Jahren in Deutschland lebt und hier verheiratet ist, wurde am Flughafen Berlin-Tegel festgenommen, verhört, zurückgeschoben und ausgewiesen. Zur Begründung hieß es, in dem Internetaufruf zu dem Kongress werde zum Widerstand und zur Unterstützung der gegen die Besatzer in Israel und Irak aktiven Gruppen aufgerufen. »Es ist allgemein bekannt, dass diese - etwa Hamas, Ansaar-al-Islam - terroristische Mittel (Bombenanschläge, Geiselnahmen mit Hinrichtungen etc.) anwenden. Vor diesem Hintergrund wurde gegen Sie ein Strafverfahren wegen des Werbens um Mitglieder und Unterstützer ausländischer terroristischer Vereinigungen nach §§ 129 a Abs. 5, 129 b StGB eingeleitet.« Der Kongress konnte nicht stattfinden.

Alle Versuche, den Betroffenen im Wege eines Eilverfahrens vorläufig nach Deutschland zu seiner Frau und einer dringend erforderlichen Krankenbehandlung zu holen, sind gescheitert. Dies obwohl der Generalbundesanwalt das strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung aufgrund einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs bereits im Oktober 2004 einstellen musste, wie die Akteneinsicht erst zwei Monate später ergab: »Da der Inhalt der vorliegenden Internetveröffentlichung als solche nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs nicht strafbar ist und weitere Ermittlungen zum subjektiven Hintergrund allenfalls zum Nachweis eines - nicht strafbaren - Versuchs des Werbens um Mitglieder oder Unterstützer führen könnten, ist das Verfahren bereits jetzt ohne weitere Ermittlungen und Überprüfungen einzustellen.« Hierüber haben die Massenmedien ebenso wenig berichtet wie über eine Pressemitteilung des Autors.

Überwachung einer Muslimin

Hilbrans schildert die Vorgeschichte eines Falles, den ich später übernahm, bei dem eine junge Berlinerin, die bereits vor Jahren zum Islam konvertiert war, ein aus der Beziehung zu einem strenggläubigen Moslem stammendes Kind aufzog, sich in Kreisen praktizierender Muslime bewegte und auch deren elektronische Foren nutzte: »Eine von Polizei und Gesundheitsamt vorbereitete Aktion überraschte sie am helllichten Tage. Aufgrund richterlicher Anordnung wurde ihr das Kind weggenommen und in eine Pflegefamilie gegeben, ihre Wohnung wurde durchsucht und sie selbst in die Psychiatrie verbracht. Zur Begründung beriefen sich Polizei und Gesundheitsamt darauf, dass die junge Frau ein Selbstmordattentat im Namen des Dschihad vorgehabt habe, bei dem sie sich, ihr Kind und weitere Menschen in den Tod reißen wollte. Sie habe dies in einem Internet-Chatroom mit anderen gläubigen Muslimen diskutiert.

Nachdem der Versuch, sie in die Psychiatrie zwangseinzuweisen, gescheitert war - die Fachärzte fanden keinerlei Anhaltspunkte für eine Fremd- oder Selbstgefährdung -, wurde sie in ihre Wohnung entlassen. Bald darauf stellten sich ihr mehrere Beamtinnen und Beamten einer Dienststelle des Berliner Landeskriminalamts vor, die schwerpunktmäßig mit der islamischen Szene befasst ist. Sie folgten der Betroffenen nunmehr Tag und Nacht auf Schritt und Tritt im Abstand von einem Meter. Sie konnte ihre Wohnung nicht mehr verlassen, ohne durchsucht zu werden.

Jederzeit fanden sich in ihrer unmittelbaren Nähe Polizeibeamte, die auch ohne Weiteres erkennbar waren. Ein Polizeifahrzeug stand Tag und Nacht vor ihrer Haustür. Nicht nur beim Einkaufen, sondern auch vor dem Eintritt in die Kanzlei ihrer Rechtsanwältin und bei ihrem Verlassen wurde sie einer intensiven Leibesvisitation unterzogen. (…) Ihr Handy war ihr mehrfach von der Polizei abgenommen und untersucht worden. Im Telecafé drängte sich eine Beamtin mit in die Telefonkabine und jede Telefonnummer wurde vor dem Wählen notiert - wenn die Beamten das Telefonat nicht gleich selbst tätigten. Die absolut entnervte Betroffene rief schließlich das Berliner Verwaltungsgericht an. Die mündliche Verhandlung über ihren Eilantrag im Juni 2006 dauerte nicht lange, dann verpflichtete sich der Polizeipräsident in Berlin, die ganz offensichtlichen Maßnahmen einzustellen.«

Als ich den Fall übernahm, ergab die Akteneinsicht, dass die zuständige Generalbundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen der Vorbereitung eines Sprengstoffanschlages aufgrund des Hinweises eines US-amerikanischen Geheimdienstes eingeleitet hatte, aber trotz monatelanger Ermittlungen nicht einmal einen ausreichenden Tatverdacht für die Anordnung eines Durchsuchungsbeschlusses durch den Ermittlungsrichter beim BGH feststellen konnte. Erst im Februar 2007 wurde diese Form der Überwachung - nach Beendigung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen des Vorwurfs der »versuchten Beteiligung an der Herbeiführung eines Sprengstoffanschlages« - eingestellt. Trotzdem hörten Schikanen, Überwachung und Behördenwillkür nicht auf. Im Dezember 2006 bestätigte ein vom Familiengericht eingeholtes Gutachten die Kindererziehungsfähigkeit der Frau B. Im Februar 2007 entschied das Familiengericht, ihr das Kind - unter Auflagen - zurückzugeben.

Nach einer Rückführungsphase hatte Frau B. am 26. März 2007 - nach elf Monaten - ihr Kind endlich wieder bei sich. Die Auflagen des Familiengerichts verpflichteten Frau B. aber noch jahrelang, eine Familientherapie durchzuführen, das Kind in den Kindergarten zu geben und mit der Familienhilfe und anderen Fachdiensten zusammenzuarbeiten, die in dem »guten Rat« einer Vertreterin des Jugendamtes gipfelten, doch einfach das Kopftuch abzulegen.

Im Mai 2007 erhielt Frau B. das Angebot, in einem Krankenhaus im Jemen zu arbeiten. Sie kaufte Flugtickets für das Bewerbungsgespräch. Ihre Wohnung wurde am 25. Mai 2007 erneut von zwei Beamten gestürmt und Pässe und Flugtickets beschlagnahmt.

Obwohl das Ermittlungsverfahren längst eingestellt war und das psychiatrische Gutachten ihre Ungefährlichkeit bestätigte, verhängte das Familiengericht ein Ausreiseverbot, mit dem Hinweis, Frau B. könne das Wohl ihres Kindes gefährden. Im Herbst 2007 - sie war nach Bremen gezogen, um dort zu arbeiten - kam es zu einer weiteren Durchsuchung ihrer Wohnung nach Reisedokumenten. Frau B., der die Gutachter Erziehungsfähigkeit und - neben einer überdurchschnittlichen Intelligenz - die Abwesenheit psychischer Krankheiten oder Defekte bescheinigt hatten, ist seitdem mit ihren Nerven am Ende, finanziell ruiniert und auf die Hilfe anderer angewiesen. Aus Angst, ebenfalls mit unbegründeten Antiterrormaßnahmen überzogen zu werden, haben sich viele Menschen aus ihrem früheren Bekanntenkreis zurückgezogen.

In einigen Berichten in den Massenmedien wurde Sonja B. als Beispiel dafür angeführt, dass auch westliche Frauen als »Konvertiten« und Unterstützer von Al Qaida und anderen islamistischen Fundamentalisten nicht vor Selbstmordanschlägen mit ihren Kindern zurückschreckten, während Pressemitteilungen über die Einstellung des Verfahrens und die weitere Rehabilitierung von Sonja B. nirgendwo erwähnt wurden.

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