nd-aktuell.de / 06.02.2018 / Kultur / Seite 15

Mädchen, die Mädchen spielen

Die niederländische Fotografin Rineke Dijkstra porträtiert Menschen an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend

Jan-Paul Koopmann

Fotos können schon deshalb nicht lügen, weil jeder weiß, dass sie es tun. Für Porträtaufnahmen gilt das ganz besonders. Nicht nur, dass heute selbst Telefone über Bildbearbeitungssoftware und Filterpakete verfügen, das sogenannte Selfie gehört inzwischen so selbstverständlich zum Programm gesellschaftlicher Anlässe, dass die gemeinsame Pose, der witzige Ausreißer und das gelöste Lächeln - die Lüge also - allgemein antrainierte Kulturtechniken sind.

Umso verblüffender ist der Gang durch die vor Kurzem eröffnete Schau »Figuren« der niederländischen Fotografin Rineke Dijkstra im Hannoverschen Sprengel-Museum. Ausgestellt wird sie hier als Trägerin des mit 15 000 Euro dotierten Spectrum-Preises der Stiftung Niedersachsen, was nach großen internationalen Ausstellungen im San Francisco Museum of Modern Art oder bei Solomon R. Guggenheim in New York ein weiteres Mal ihre künstlerische Bedeutung unterstreicht. Und das mit Porträts, trotz allem.

Seit Beginn ihrer künstlerischen Arbeit Anfang der 90er Jahre porträtiert Rineke Dijkstra junge Menschen, die sich an der Schwelle zwischen Kindheit und Jugend befinden. Ohne dabei blödsinnige Klischees (»staunende Kinderaugen«, »erwachende Sexualität«) zu bedienen, wird in diesen Aufnahmen das ganze Elend der Fotografiererei sichtbar: der unaufgelöste Widerspruch aus dem der Beobachtung durch die Kamera geschuldeten Unwohlsein und dem Versuch, vor ihr möglichst lässig zu performen.

Rineke Dijkstra quält diese Noch-Kinder nicht, gibt sie auch nicht voyeuristischen Blicken preis. Selbst wenn die Kinder halbnackt am Strand abgelichtet wurden, strahlen die Bilder der Serie »Beach Portraits« eine ruhige Nüchternheit aus, die wohl tatsächlich in einer künstlerischen Haltung ruht. Klar hat Rineke Dijkstra in Odessa andere Bikinis fotografiert als in den USA, aber so anders waren sie dann auch wieder nicht. Das ist keine Milieufotografie, keine Körperstudie, kein Spiel mit Tabus - sondern eine künstlerische Auseinandersetzung mit Inszenierungen in ihrem eigenen Medium.

Dass es hier um Kunst geht, unterstreicht die Schau im Sprengel- Museum noch mit nicht fotografischen Exponaten aus der eigenen Sammlung. Da hängt dann ein Picasso zwischen den Fotos oder Max Beckmanns »Ruhende Frau mit Nelken« zwischen anderen jungen Frauen auf anderen Sofas. Gelungen ist diese Konfrontation, weil sie eine Ähnlichkeit aufzeigt zwischen dem Versuch des Malers, der hier bewusst eine Pose herstellt - und den eben nur scheinbar reinen Objekten der Fotografie, die sich selbst ganz ähnlich positionieren.

Noch deutlicher wird das bei den figürlichen Arbeiten, die gegenüber einigen Porträts im Raum stehen: stark abstrahierte Skulpturen, die - wenn überhaupt - Körperhaltungen darstellen. Lynn Chadwicks »Watcher III« etwa, eine grobe Arbeit aus verschweißten Eisenteilen. Sie ähnelt unübersehbar den beiden eng beieinander stehenden Jungs auf dem Foto an der Wand gegenüber. Aufregend ist aber der Unterschied: In den abstrakten Arbeiten steckt nichts Individuelles, es sind Anti-Porträts, Rohformen dieser einstudierbaren Posen, die man entweder einnimmt, wenn eine Kamera hinter einem her ist, oder die man gerade zu vermeiden sucht.

Wie schmerzhaft solche Versuche mitunter sein können, zeigt »The Gymschool«, eine Videoarbeit, in der Rineke Dijkstra junge Mädchen beim Turnen porträtiert. Auf drei parallelen Leinwänden verdrehen und verbiegen sich diese Kinder, dass einem schon das Zusehen ein Ziehen im Rücken beschert. In der Gleichzeitigkeit der Filme steckt echter Grusel: Während das gefilmte Mädchen sich links noch vorsichtig dehnt, starrt es in der Mitte erschöpft und leer in den Raum, während es rechts schon wieder die Füße hinter die Ohren klemmt. Man kommt da nicht raus und kann im Prozess nur noch zugucken: wie die Blicke der Gefilmten der Kamera ausweichen, sich da manchmal Schmerzen abzeichnen oder eine Turnerin versucht, sich das Lachen zu verkneifen.

Dijkstras subtilste Arbeit ist das nicht. Bemerkenswert ist sie trotzdem, weil der Film beispielhaft das entfaltet, was in den Fotografien konzentriert verborgen liegt: Identität nämlich, die Rineke Dijkstra nicht in Körperformen und Bekleidung sucht, sondern in der Gesellschaft - da nämlich, wo die jungen Menschen Entscheidungen treffen und sich so oder so zur Kamera verhalten müssen.

»Rineke Dijkstra: Figuren«, bis zum 6. Mai im Sprengel-Museum, Kurt-Schwitters-Platz, Hannover.