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Blutige Zeiten in Brasilien

Bandenkämpfe haben zu einem starken Anstieg der Mordrate geführt

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 6 Min.

Als Brasiliens Verteidigungsminister Raul Jungmann Ende Januar in Rio de Janeiro vor die Presse trat, glich seine Erklärung einer Kapitulation. Das Sicherheitssystem des Landes sei »kaputt« und die Bundesregierung überfordert mit den immer transnationaler agierenden Verbrechern. Wenige Kilometer von der Pressekonferenz entfernt lieferten sich Polizei und Drogengangs heftige Gefechte. Im Stadtteil Cidade de Deus, der durch den gleichnamigen Film (»City of God«) weltbekannt wurde, kam es bis spät in die Nacht zu Schusswechseln. Mehrere Menschen starben. Das ist der blutige Alltag in der »Wunderbaren Stadt«, wie Rio de Janeiro genannt wird. Alleine im Januar wurden dort mehr als 600 Schießereien gezählt. Bewohner warnen sich mittlerweile über Apps und soziale Netzwerke vor den Kugeln.

Doch nicht nur Rio de Janeiro versinkt immer mehr in der Gewalt. Insbesondere im Norden und Nordosten droht die Situation außer Kontrolle zu geraten. In einigen Bundesstaaten hat sich die Mordrate in nur einem Jahr verdoppelt. Und die Gewalt wird immer brutaler: Am 27. Januar starben in der Küstenmetropole Fortaleza im nordöstlichen Bundesstaat Ceará 14 Gäste einer Party. Unbekannte hatten das Feuer auf einen Nachtclub eröffnet. Der Schock über das Massaker war noch nicht verdaut, als zwei Tage später im gleichen Bundesstaat zehn Gefangene auf bestialische Weise in einem Gefängnis ermordet wurden.

Das neue Jahr geht los, wie das alte aufgehört hat: mit vielen Toten. Im Jahr 2017 starben mehr als 61 000 Menschen einen gewaltsamen Tod - so viele wie nie zuvor in der Geschichte Brasiliens. Sieben Menschen werden pro Stunde ermordet. Woher kommt die Gewalt?

Eine Ursache ist die schwere Wirtschaftskrise. Viele Bundesstaaten sind pleite. Polizisten warten oft mehrere Monate auf ihre Löhne. In mehreren Staaten streikten die Sicherheitskräfte, die Armee musste auf den Straßen patrouillieren. Auch die Tatsache, dass viele Brasilianer erneut in die Armut abgerutscht sind, birgt Sprengstoff. Der Soziologe Julio Jacobo Waiselfisz warnt: »Diese Krise bedroht massiv die öffentliche Sicherheit.«

Der Anstieg der Gewalt hat aber auch mit dem Expansionsstreben des organisierten Verbrechens zu tun. Die beiden größten Kartelle des Landes, das Erste Hauptstadtkommando (Primeiro Comando da Capital, PCC) aus São Paulo und das Rote Kommando (Comando Vermelho, CV) aus Rio de Janeiro, haben sich in den vergangenen Jahren immer weiter ausgebreitet - auch ins Ausland. Es wird vermutet, dass die brasilianischen Kartelle auch darauf spekulieren, ein Machtvakuum nördlich der Grenze in Kolumbien zu füllen, das durch den Rückzug der Guerilla FARC entstehen könnte.

Im Oktober 2016 beendeten PCC und CV ihre über zwei Jahrzehnte währende Allianz. Grund für die Scheidung: Im Juni 2016 ermordete der PCC den »König der Grenze« genannten Drogendealer Jorge Rafaat. Seitdem kontrolliert das PCC die für den Drogen- und Waffenhandel lukrative Grenzregion zu Paraguay. Das kleinere Kartell CV ist in dieser Gegend nun abhängig vom PCC. Das Ende des Burgfriedens der beiden mächtigen Organisationen setzte eine Gewaltspirale in Gang. Zuerst kam es zu Auseinandersetzungen in den Gefängnissen: Mehr als 100 Anhänger beider Banden und verbündeter Gruppen starben Anfang 2017 bei Massakern. Die Nachrichten von verstümmelten und gegrillten Leichen, abgetrennten Köpfen und herausgerissenen Herzen gingen um die Welt. Nun hat die Gewalt die Gefängnismauern überschritten und die Straßen erreicht. Die Auseinandersetzungen um Schmuggelrouten und die Hegemonie in den Vorstädten werden mit extremer Brutalität geführt.

Sowohl das PCC als auch das CV entstanden in den Gefängnissen. PCC entstand im Jahre 1993 im Hochsicherheitsgefängnis Taubaté im Bundesstaat São Paulo als Reaktion auf das Carandiru-Massaker, das blutigste Ereignis der brasilianischen Gefängnisgeschichte. Damals tötete die Militärpolizei nach einem Aufstand 111 Gefangene. Anfänglich agierte das PCC als Schutzorganisation für die Insassen - gegen die staatliche Repression und Vernachlässigung in den Haftanstalten. Heute ist das PCC die größte kriminelle Vereinigung in Brasilien und hat nach Schätzungen 22 000 Mitglieder. Ein Großteil davon sitzt im Gefängnis und koordiniert von dort aus die kriminellen Aktivitäten wie den Drogenhandel, Überfälle und Entführungen. Das CV wurde Ende der 1970er Jahre zur Zeit der Militärdiktatur mit Hilfe von inhaftierten linken Widerstandskämpfern auf einer Insel im Bundesstaat Rio de Janeiro gegründet.

Nährboden für die Banden sind die überbelegten Gefängnisse. Ähnlich wie in den USA begann Brasilien in den 1990er Jahren eine Politik der Masseninhaftierung. Zwischen 1990 und 2014 hat sich die Zahl der Gefangenen um das Siebenfache erhöht. Derzeit sitzen über 700 000 Menschen hinter Gittern - damit hat Brasilien die drittgrößte Gefängnisbevölkerung der Welt. Viele Anstalten sind doppelt oder dreifach überbelegt. In Zellen, die für acht oder zehn Gefangene ausgelegt sind, leben oft über 50 Insassen. »Da der Staat die überbelegten Gefängnisse beibehält, ist er der Hauptverantwortliche für die Gewalt. Er schafft die Voraussetzungen für Aufstände, Morde und Enthauptungen«, sagt der Menschrechtsaktivist Marcelo Naves von der katholischen Gefängnispastorale dem »nd«.

Es ist fast unmöglich, hinter Gittern zu überleben, ohne sich einer Bande anzuschließen. Im Gegenzug für die uneingeschränkte Loyalität bieten die Banden ihren Mitgliedern Schutz und materielle Zuwendungen. Die Gefangenen zahlen für den Schutz, den der Staat nicht bietet. Heute kontrollieren die Kartelle so gut wie jede Haftanstalt im Land - mit eigenen Regeln und Gesetzen. In einige Blöcke haben Gefängniswärter seit Jahren keinen Fuß mehr gesetzt. Für viele Insassen beginnt die kriminelle Karriere erst durch den Kontakt zu den Kartellen hinter Gittern - daher werden die Gefängnisse oft als »Verbrechensschulen« bezeichnet. Viele Probleme sind somit hausgemacht: Die jüngste Eskalation der Gewalt ist auch Ausdruck einer verfehlten Politik. Die Agenda der Masseninhaftierung und staatliche Vernachlässigung der Gefängnisse scheinen sich nun zu rächen.

Die derzeitige Gewaltexplosion zeigt auch wieder einmal: Die Gewalt in Brasilien hat eine Adresse und die Opfer eine Hautfarbe. Die überwiegende Mehrheit der Toten stammt aus den armen Randgebieten der großen Städte. Studien zeigen, dass schwarze Jugendliche ein fast dreimal so hohes Risiko haben, einen gewaltsamen Tod zu erleiden, wie ihre weißen Altersgenossen. Afrobrasilianische Gruppen sprechen daher von einem »Genozid der schwarzen Bevölkerung«. Viele der Opfer gehen auf das Konto der Polizei. Regelmäßig stürmen und besetzen Sicherheitskräfte arme Viertel. Die kriegsähnlichen Auseinandersetzungen fordern viele Tote und es kommt häufig zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Laut Naves hat sich der Kampf gegen die Kriminalität in Brasilien zu einem »Bürgerkrieg gegen die Armen« entwickelt. Nirgendwo sonst auf der Welt tötet die Polizei so oft wie in Brasilien - und wird so oft getötet.

Der rechtsgerichtete Präsident Michel Temer erklärte am 5. Februar, dass die Verbrechensbekämpfung Priorität in seiner Regierung haben werde. Konkret wurde er aber nicht. Soziale Bewegungen und Menschenrechtsaktivisten glauben ohnehin, dass nur eine radikale Reform der Drogen- und Strafpolitik die Gewalt effektiv bekämpfen kann. Da dies nicht in Sicht ist, muss sich Brasilien auch weiterhin auf einen Anstieg der Gewalt einstellen.

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