nd-aktuell.de / 08.02.2018 / Politik / Seite 5

»Es gibt die Gefahr einer Mexikanisierung der Sicherheitslage«

Interview mit dem Soziologen Sergio Adorno über Gewalt in Brasilien, die Macht krimineller Kartelle und die neue Ökonomie des Verbrechens

Viele brasilianische Städte durchleben derzeit eine Welle der Gewalt. Wie erklären Sie das?

Als Erstes muss gesagt werden: Was momentan in Brasilien passiert, ist keine neue Tendenz. In den vergangenen 30 Jahren ist die Gewalt stetig angestiegen. Das zeigt sich vor allem am Zuwachs der Mordrate. Was neu ist, ist die extreme Gewalt in den Gefängnissen. Wir haben lange die Ursachen erforscht, sind jedoch zu keinem Konsens gekommen. Aber: Es ist sehr wahrscheinlich, dass das sozioökonomische Profil Brasiliens Einfluss auf die Gewalt hat. Brasilien ist eine reiche Nation mit einer sehr hohen Anzahl von Armen. Der Reichtum ist extrem ungleich verteilt. Was die Gewalt zudem stark angetrieben hat, ist die Politik der Masseninhaftierung. Arme Viertel werden von der Polizei belagert und Jugendliche, die mit kleinen Mengen Drogen erwischt werden, landen im Gefängnis. Viele schließen sich erst dort dem organisierten Verbrechen an. Die aktuelle Sicherheitspolitik stärkt die Präsenz der Kartelle und heizt ihre Kämpfe um die Vorherrschaft sogar noch an.

Welche Rolle spielen die Veränderungen des organisierten Verbrechens?

Es gibt eine neue Ökonomie des Verbrechens vor allem im Bereich des Drogenhandels. Man kann von einer Globalisierung sprechen, die fast alle Kontinente betrifft. Brasilien hat eine riesige Grenze und es haben sich verschiedene Profile des organisierten Verbrechens entlang dieser Grenze entwickelt. Das macht die Situation sehr kompliziert. Meine These ist: Das organisierte Verbrechen hat sich verändert, aber das brasilianische Strafsystem ist das Gleiche geblieben.

Im Norden und Nordosten explodiert die Gewalt. In São Paulo geht die Mordrate zurück. Warum?

Die Banden aus São Paulo und Rio de Janeiro sind in den Norden und Nordosten expandiert. Sie sind immer aktiver in den Grenzregionen und kämpfen um die Kontrolle von Territorien. Was dort derzeit passiert, ist in São Paulo bereits vor Jahren geschehen: Das PCC (Erste Hauptstadtkommando, Anm. d. Red.) erkämpfte sich in den 1990er Jahren zuerst das Monopol in den Gefängnissen. Bald überschritt das Kartell die Gefängnismauern und heute kontrolliert es einen Großteil der armen Stadtteile von São Paulo. Das PCC hat dort fast die absolute Macht und hat Regeln des Zusammenlebens etabliert: So darf man beispielsweise nicht mehr ohne ihre Autorisierung töten. Deshalb ist es mittlerweile in São Paulo relativ ruhig geworden. Einige Menschen sagen sogar, dass das PCC in ihren Vierteln den Frieden gebracht habe. Diese Stärke bedeutet auch, dass es sich beim PCC nicht nur um eine einfache Gruppe von Kriminellen handelt, die man kontrollieren könnte. Es würde vielleicht zu weit gehen, bereits von Strukturen wie bei der italienischen Mafia zu sprechen, aber es hat eine enorme Professionalisierung stattgefunden. Wenn man sich ihre im Zuge von Ermittlungen veröffentlichte Buchhaltung anschaut, sieht man, dass das keine Amateure sind.

Ist Brasilien auf dem besten Weg dahin, ein »Narcostaat« wie Mexiko zu werden?

Nein, ich glaube bis jetzt gibt es dafür noch keine Anzeichen. In Brasilien ist die Präsenz des organisierten Verbrechens im Staat noch relativ gering. Es ist noch kein Szenario, in dem der Staat komplett die Kontrolle über die Sicherheit verloren hat. Die Geschichte von Staaten wie Mexiko ist ganz anders. Brasilien ist noch nicht bei diesem Szenario angelangt. Aber man sollte nicht denken, dass sich das nicht bald ändern könnte. Studien von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zeigen, dass Verbindungen zwischen Staat und organisiertem Verbrechen existieren. Es gibt ein starke Tendenz des Kontrollverlusts und die Gefahr einer Mexikanisierung der Sicherheitslage.

Der Staat reagiert mit einer Politik der harten Hand: Immer mehr Polizisten werden eingesetzt, der Kongress diskutiert im Moment die Liberalisierung der Waffengesetze, neue Gefängnisse sollen gebaut werden. Lassen sich auf diese Weise die Probleme lösen?

Auf keinen Fall. Wenn man immer mehr Jugendliche ins Gefängnis wirft, sorgt man dafür, dass der Gewaltmechanismus angetrieben wird. Und mit Gewalt wird man den Rachekreislauf nur weiter in Gang setzen. Das wird noch mehr Opfer zur Folge haben.