Die Elenden und der Säufer

Zurück in die Heimat: Wie aus den »Freunden« urplötzlich nur noch »die Russen« wurden.

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
Nachdem sie als Sieger und Befreier von der Nazi-Tyrannei nach Deutschland gekommen waren, lebten zwischen 350 000 und 500 000 sowjetische Soldaten in der DDR und damit an der sensibelsten Trennstelle zwischen den politischen Weltsystemen. Rund 2500 Quadratkilometer der DDR - das entspricht etwa der Größe des Saarlandes - waren als »sowjetisches Militärgebiet« deklariert: Kasernen, Depots, Flugplätze, Spionagestationen, Übungsareale.

Die sowjetischen »Freunde«, die hinter Mauern und Zäunen lebten, blieben für die meisten Einheimischen zumeist Fremde. So wie umgekehrt Kontakte zu DDR-Bürgern die Ausnahme blieben. Dabei halfen Sowjetsoldaten voller Freude bei der Ernte, machten im Winter Versorgungsstraßen frei. Der Dank, den sie dafür verspürten, wärmte die Seelen. Kulturensembles der Sowjetarmee begeisterten Hunderttausende. Zu Feiertagen lud man Rotarmisten der Gruppe der in Deutschland stationierten Streitkräfte (GSSD) in Arbeitskollektive, in Schulen oder in Kasernen der Waffenbrüder von der NVA ein und beschwor die »unverbrüchliche Freundschaft«.

Die Dauer des Wehrdienstes in der Sowjetarmee betrug zunächst drei, später zwei Jahre. Der Soldatenalltag war geprägt von militärischem Drill und oft von Gewalt. Die »Dedowschtschina«, die »Herrschaft der Großväter«, stand für ein Unterdrückungssystem der Rekruten durch Dienstältere. Die Verpflegung war bescheiden. Ähnlich schlecht war es um die gesundheitliche Betreuung bestellt. Tausende Sowjetsoldaten sind in der DDR ums Leben gekommen - durch Unfälle, Gewaltexzesse, Suizid. Exakte Zahlen gibt es wohl nicht einmal in russischen Archiven.

Immer wieder gab es auch Übergriffe von Sowjetsoldaten außerhalb der Kasernen. In den Akten der Staatssicherheit sind allein für die Jahre 1976 bis 1989 etwa 27 500 Delikte sowjetischer Militärangehöriger verzeichnet: Verkehrsdelikte, Diebstähle, aber auch Mord, Körperverletzung, Raub und Vergewaltigung. Straffällig gewordene Soldaten konnten nicht von der DDR-Justiz belangt werden. Wie ihre Vorgesetzten sie bestraften, ist in der Regel nicht bekannt.

Die Ereignisse des Jahres 1989, die offene Mauer, die bevorstehende Vereinigung der DDR-Deutschen mit denen im imperialistischen Feindesland stellten die Sowjetsoldaten vor eine unerwartete Situation. Anders als 1953, als mit ihrer Hilfe ein Aufstand gestoppt und Ruhe in den ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat gebracht wurde, befahl Moskau nun: Stillhalten. Eigensicherung. Abzug.

Vor den Kasernen tauchten Bundeswehrsoldaten auf. Ganz legal beobachteten sie, was sich tat. Noch bis zum endgültigen Abzug der »Russen« hatte man in den westlichen Stäben Angst vor dem Undenkbaren. Mehrfach kam es zu Zusammenstößen. Verunsicherte Wachposten schossen auf die »feindlichen Spione«. Echte Spione verhalfen Sowjetsoldaten zur Flucht, als Deserteure brachten die wertvolle Geschenke mit.

Der Rückzug mehrerer kampfstarker Armeen wurden zu einer logistische Großaufgabe. In drei Jahren und elf Monaten brachte man 546 200 Soldaten und Offiziere sowie deren Angehörige heim. Dazu kamen mehr als 120 000 schwere Waffen und sonstiges militärisches Gerät - insgesamt eine Last von 2,7 Millionen Tonnen.

Die meisten Rotarmisten kamen in ein zerfallendes Reich zurück. Der Sozialismus, den sie an vorderster Front verteidigt hatten, löste sich in Anarchie auf. Man nahm aus »Feindesland« mit, was man tragen konnte. Generaloberst Matwej Burlakow, der Chef der sogenannten Westgruppe, schreibt in seinen Aufzeichnungen: »Ich forderte von den Kommandeuren, sorgsam mit materiellen Werten umzugehen und nach Möglichkeit alles mitzunehmen, weil man praktisch alles am neuen Stationierungsort in Russland gebrauchen könnte.«

Und er selbst war ein Vorbild. Von Sperenberg, dem Flugplatz, der dem Oberkommando in Wünsdorf am nächsten lag, hob so manche Transportmaschine ab, gefüllt mit dem »Eigentum« korrupter Kommandeure. Andere Berufssoldaten bauten mafiaähnliche Organisationen auf. Sie handelten mit allem: Diesel, Kaviar, Waffen, Gerät und kauften dafür zumeist alte Westautos.

Was die Westgruppe an ihren Standorten zurückließ, war eine Last, an der das wiedervereinigte Deutschland noch lange tragen muss: kontaminierte Grundstücke, Müll, vergrabene Munition. Doch all das war kein Grund, die sowjetischen Soldaten derart zu demütigen. Statt sie mit Anstand, also gemeinsam mit den Truppen der drei anderen in Berlin stationierten Alliierten zu verabschieden, gestattete man ihnen nur, sich auf dem Areal des Treptower Ehrenmals, wo über 7000 in den letzten Kriegstagen 1945 gefallene Rotarmisten ruhen, zu verabschieden.

»Wir bleiben Freunde - allezeit! Auf Frieden, Freundschaft und Vertrauen sollten wir uns’re Zukunft bauen. Die Pflicht erfüllt! Leb’ wohl, Berlin! Uns’re Herzen heimwärts zieh’n.« So lautet ein von einem russischen Soldaten für den Abzugstag geschriebener Liedtext.

Was von diesem Tag wirklich bleibt? Bei vielen sicher das Bild des sturzbetrunkenen russischen Präsidenten Boris Jelzin, der dem Kapellmeister des Berliner Polizeiorchesters den Taktstock entriss, um sich - und damit sein Land - dem Gespött der letztendlichen Sieger preiszugeben.

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