nd-aktuell.de / 13.02.2018 / Kultur / Seite 16

Bett oder Barrikade?

Brechts »Trommeln in der Nacht« an den Münchner Kammerspielen

Hans-Dieter Schütt

Über die Zukunft sind sich Menschen rasch einig; was beständig entzweit, ist die Vergangenheit. Das unbesät Brachliegende verstört weniger als das geerntet Vorliegende. So genau war dieses oder jenes Ereignis? Wer wagt das zu behaupten? Erinnerung, Gedächtnis - unsterbliche Einladungen zur Lüge. Alles war so, wie es niemals sein kann. Davon aber wird unser wahres Geschichtsbuch am Leben erhalten: das Erzählen.

Christopher Rüpings Inszenierung von Bertolt Brechts »Trommeln in der Nacht« an den Münchner Kammerspielen (Bühne: Jonathan Mertz) versucht die Zeitreise: Wie könnte sie damals ausgesehen haben, die bajuwarische Uraufführung 1922? Vor grobstrichig gemalter Berlinkulisse, also Mietskasernen wie windschrägen Kinderzeichnungen: Mustertapete und bürgerliches Mobiliar. Man zeigt sich hochgeschlossen. Rot geht der Mond auf über all der Künstlichkeit. Das Plakat von einst blafft uns an: »Glotzt nicht so romantisch!«

Rezitiert wird Feuchtwanger, der damals im Parkett saß. Und das Ensemble schmachtet, schnarrt, sonort sich hinüber ins Bemooste. Theater als liebreizend ernst genommenes Museum. Parodie mit Pappe. Und Posen mit Pathos. Alles wirkt dennoch so aufgezogen innig. Es macht Freude, sich da hineinzugrienen. Alfred Kerr, der Brecht nicht mochte, schrieb übers Stück: Dieser Dichter »denkt etwa, dass der Abglanz einer Zeit heute durch sinnloses Gebrüll, Suff, Durcheinander zu machen ist«. Die »Gabe kurzen Kennzeichnens«: meist »gröblich verschmiert«. Dramatik zwischen »Wildheit und Wurstruhe«.

Da zappeln, zetern Wiedergänger. Theater als eine Zeitreise, die Tote aufruft, um uns die Wahrheit übers Leben zu erzählen: Wir sind und bleiben Unerlöste. Es obsiegt in »Trommeln in der Nacht« die wahre Liebe. Da war Brecht noch ein ganz Junger, grad zwanzig, und war mehr hinter Weiberröcken her als hinter den Trommeln der Roten - was er später korrigierte und als »Lob der Dialektik« ausgab: Verdammt, es müsse doch beides gehn.

Im schmutzschmatzenden Früh-Stück des Schwarz-Wäldlers geht nur eines, aber die Liebe ist ständig in Gefahr. Entweder sind es Mama und Papa Balicke, die ihr mannstolles Töchterchen Anna an Herrn Murk, der mit Geld um sich schmeißt, verheiraten wollen. Oder der eigentliche Liebste, der Andreas, dieser Kriegsheimkehrer, der tot sein soll, steht plötzlich wie der Leibhaftige vor ihr, zerlumpt, zerschossen, gedemütigt. Spannend, ergreifend: Das historische Tondokument einer sehr frühen Aufführung kratzt sich hier durch die Szene, da Kragler und Anna einander neu begegnen, starr vor Schreck.

Kragler, ein Krüppel, ein Gespenst. Was soll so ein hübsches Frätzchen mit einem Gespenst? Doch das wirklich große Gespenst, das grad umgeht in Berlin, sind die Umstürzler vom Januar 1919, die das Zeitungsviertel stürmen und Andreas dazu einfangen wollen. Aber nein, sagt sich Andreas, es ist genug geballert, ich will zu Anna unters kuschelige Laken.

Wiebke Puls als Annas Mutter: hart, verhärmt, steif gebügelt bis unter die Haarspitzen, von grundtrauriger Kleinbürgerflachheit. Hannes Hellmann als Vater: ein brutalbraver Kriegsgewinnler. Nils Kahnwald ist der familiäre Wunschbräutigam: von Kopf bis Fuß gleichsam ein schlawinerisches Menjoubärtchen. Wiebke Mollenhauer taucht ihre Anna in weichteilzarte Scheu, und Christian Löbers Kragler, weiß geschminkt, besitzt den nahezu heiligen, eingefrorenen Ernst eines Mannes, der Jahrzehnte später Beckmann heißen und draußen vor der Tür stehen wird.

Im letzten Akt wird der rote Pappmond abgehängt - die Romantiker bleiben schließlich immer die Abgehängten. Aber wir haben ein Recht darauf, romantisch zu glotzen, ein Recht und eine untötbare Neigung. Dagegen setzt die Inszenierung ihren Therapeuten ein: einen Häcksler, der seinen Appetit auf die Kulissen ausleben darf. Das große Teilchenfressen. Verstärkt durch Publikumsbeschimpfung. Bizarr montierte Neonlampen erinnern jetzt an Trümmer-Zacken vom World Trade Center.

Ein Blade-Runner-Raum. Die Schauspieler, in weißen Science-Fiction-Kitteln, werden nunmehr sehr gegenwärtig, rasseln, jagen Brecht durch Mikrofone und zu einem Ende, als sei er Jelinek. Die prophetische Qualität der Szenerie liegt in der Art, wie hier der Friedenswille Traum, der Friedenskampf zum Trauma wird.

Brecht hatte ein Leben lang gestört, was Brecht da geschrieben hatte: einen unrevolutionären Schluss. Bett statt Barrikade? Tadel des Marxisten B. für den Dichter B. Aber letztlich gab es keinen Ablasshandel mit der Gesinnung: Das Stück blieb unangetastet. Rüping im Programmheft: »Ich verweigere eine klare politische Stellungnahme. Weil konkrete politische Forderungen, selbst die berechtigtsten, auf der Bühne so besserwisserisch, so hohl und dämlich klingen, dass ich als Zuschauer ermüdet die Arme vor der Brust verschränke und die Ohren zuklappe.«

In dem Bekenntnis liegt der Streitwert der Aufführung: Die Standpunktgier herunterlaufen lassen an einer Ölhaut; sprich nichts aus, was zu klar wirken könnte. Politische Ambition gibt sich hier die Kugel. Wär’s wirklich eine, dann die Discokugel: Alles kulminiert in einem Klang-Tanz, bei dem Bedřich Smetana (»Die Moldau«), Percy Sledge und The Animals zusammenstürzen - besagter Prager Fluss war Brechts späterer Ort, um Weltveränderung zu träumen: »Es wandern die Steine ...« Hier wandert nichts. Der Dichter ist roh, blutig, dreckig, expressiv - ganz kreatürlich, nicht ideologisch. Und Damian Rebgetz fügt das alles zusammen, den Pop, die Revue und das Melodram - ein koboldiger Kommentator und Musicalclown.

Dennoch tut Rüping Brecht den Gefallen: Er wechselt von Vorstellung zu Vorstellung den Schluss - spielt heute Brecht und morgen eine selbst gemachte Alternative: Anna stirbt unterm Rasiermesser, Kragler aber geht zu den Spartakisten. Soll jeder selber sehen, was ihm mehr behagt. Beherztes Jonglieren mit den Möglichkeiten des Lebens: jede richtig, jede falsch. Liebe zur Beliebigkeit ist auch eine Leidenschaft, sie kommt aus berechtigten Absagen an den Avantgardismus. Rüpings Feld ist die Desillusionierung, dort treibt er’s kampflos, anregend gleichgültig: mit aufreizenden, schön verwirrenden Spielideen.

Nächste Vorstellungen: 15., 22. Februar; 4., 25. März. Die Inszenierung ist eingeladen zum Berliner Theatertreffen im Mai.