Der gute Ton

Leo Fischer über Höflichkeit im Allgemeinen und die unvergleichliche Solidarität in der SPD im Speziellen

Man müsste, wenn man mal sehr viel Zeit hat, eine Kulturgeschichte der Höflichkeit in Deutschland schreiben; man hätte viel zu lachen, viel zu weinen und stirnerunzeln auch. Der ewige weltpolitische Provinzler Deutschland hat sie mehrfach importiert, die Höflichkeit, aber richtig angekommen ist sie nie; sie ist kein tägliches Gebrauchsgut, sondern wird hinter Glasvitrinen vorgehalten wie Omas gutes Porzellan - zu kostbar, um je benutzt zu werden, und eigentlich weiß man auch nicht richtig, wie man sie benutzt. Gleich wie und in welcher Gesellschaftsschicht man sich umsieht: Höflichkeit in Deutschland ist eigentlich nur die Bedingung, unter der sie aufgehoben wird.

Ob Aktionärsversammlung, Familiengeburtstag oder linkes Szenetreffen - immer ist man sich schnell einig, auf die Förmlichkeiten verzichten zu können. Leute werden einander nicht ordentlich vorgestellt, Fremde mit Vertraulichkeiten überrumpelt und von weither angereiste Gäste kühl stehengelassen. Flapsige Sprüche und überdrehtes Gewitzel sollen darüber hinwegtäuschen, dass eigentlich niemand weiß, wie man sich in Gesellschaft benimmt. Die ideologische Unterfütterung dieser Hilflosigkeit ist dann zwangsläufig die Kumpanei, die Kameraderie: »naja, wir sind ja unter uns hier«, »naja, wir sind doch alle links hier«, »naja, wir sind doch alle rechts hier«, »naja, wir sind doch alle Zahntechniker hier«. Stets regiert die Ausnahme, es kommt nie zum Regelfall - normalerweise müssten wir jetzt höflich sein, heute jedoch nicht. Es wird die dümmlichste Ausrede gesucht, um sofort hinter einen zivilisatorischen Reifegrad zurücktreten zu können, den man immer nur als lästig, nie als Schutz empfindet. So entwickelt sich noch aus einem Treffen feiner und liebenswerter Leute stets eine unangenehme Dynamik, die im Wesentlichen nur zwei extreme Optionen zulässt - Zwangsverbrüderung oder Flucht. Leute, die schüchtern, zurückhaltend oder eben höflich sind, werden mit Sprüchen wie »mach dich mal locker« bearbeitet; wer durch diese nicht erreichbar ist, gilt schnell auch als psychiatrisch auffällig. In Österreich, wo die höfische wie die bürgerliche Kultur viel tiefer ins gesellschaftliche Fundament sanken, empfindet man die deutsche Hemdsärmligkeit und Unbeholfenheit in sozialen Situationen als peinlich und quälend; umso schlimmer, wenn sie zumeist dann auch noch durch besserdeutsche Arroganz kaschiert werden soll.

Diese Hemdsärmligkeit, nie wird sie so sehr Methode wie in den Resten der deutschen Sozialdemokratie, die in irgendeiner Nebenpräambel ihrer Statuten noch die »Brüderlichkeit« stehen hat und wo wie nirgends sonst Schulterklopfen und Händepatschen das Grauen, das man voreinander fühlt, runterschlucken helfen soll. In den bürgerlichen Parteien weiß man immerhin, dass der Kollege des Kollegen Wolf ist; in der SPD kann der Typ, den man vor einem Jahr an seinen Busen gedrückt und als Hoffnungsträger gefeiert hat, heute schon wieder als fusselbärtiger Tagelöhner auf die Straße geschickt werden. Das hätte auch keiner gedacht, dass der smarte, weltgewandte Schulz innerhalb kürzester Zeit so rundgemacht wird. Die einzige Strategie, die der SPD nachweislich Prozente zurückgibt - Kritik und Korrekturen an Hartz IV - hatte man ihm schon nach wenigen Wochen untersagt; dass er sich darauf einließ, ließ die Talfahrt der Kompromisse beginnen. Die unvergleichliche Solidarität der Partei hat aus dem internationalen Überflieger einen traurigen Clown gemacht; wahrscheinlich hätte auch ein Barack Obama die Partei nicht aus ihrer Niedertracht reißen können - er wäre dann ebenfalls von Gabriels Tochter entlassen worden.

Diese grobe Unmanierlichkeit, die Absage an Distanz, Form und Vertrauen, der ganze Lebensmodus, in welchem Verbrüderung und sofortiges Kaltstellen sich nicht widersprechen, sondern Teil einer einzigen Erwürgumarmung sind, nie ist dieses Prinzip stärker Mensch geworden als in der designierten Parteivorsitzenden. Die anderen waren nur grob, sie hingegen lebt Grobheit; ihr ganzer Habitus ist trotzige, brutale Abwehr von Differenz, Zartheit und Komplexität. Schon jetzt hat sie angekündigt, ihre Partei sicher überallhin zu schieben, nur nicht nach links; sie will im wesentlichen ein Weiter-so der Kumpeligkeit und des Pöstchengeschiebes zwischen den immergleichen Leuten. Eine Erneuerung der SPD hätte eine Chance nur darin gehabt, ihr den Unterschied zwischen Kumpanei und Solidarität wieder beizubringen. Mit Nahles ist dieser Plan schon vor ihrem Amtsantritt beerdigt.

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